Lyrischer EU-Ratspräsident inspiriert seine Kollegen

Europa: Erst verfasste Van Rompuy nur kurze Verse, dann sollte die gesamte Grundrechte-Charta ein Gedicht werden.

Brüssel. Es wird in diesen Tagen viel gedichtet in der Europäischen Union, durchaus nicht immer erfolglos. Der EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy etwa hat mit seiner Sammlung japanischer Haiku-Verse ein beachtliches Publikumsecho erzielt.

Haikus haben exakt 17 Silben, das kriegt man zur Not auch bei der Arbeit hin. Van Rompuy ist nämlich kein Faulenzer. Alle Nase lang beruft er einen Sonder-Gipfel ein. Der wird dann von ihm geleitet, jedenfalls theoretisch. Praktisch kann es passieren, dass Angela Merkel und Nicolas Sarkozy dem Kollegen bedeuten, er möge vor der Tür warten, weil sie Wichtiges besprechen wollen. Dann hat er Zeit für den einen oder anderen 17-Zeiler.

Die EU-Grundrechte-Agentur in Wien dachte sich: Was Van Rompuy kann, können wir schon lange. Anders als der Belgier, der Enkelkinder, Obstbäume oder den Liebesakt von Kröten in den lyrischen Mittelpunkt stellt, hatten die Wiener jedoch ein politisches Anliegen: Sie wollten aus der Grundrechte-Charta der EU ein Vers-Epos machen. Fast anderthalb Stunden sollte die Deklamation des Textes dauern.

Eine Verversung diesen Ausmaßes ist natürlich nicht umsonst. Das macht auch ein Van Rompuy nicht mehr nebenher. Da müssen Profis ran, und das kostet richtig viel Geld. Womit der Punkt erreicht war, an dem Viviane Reding, zuständig für die Grund- und Bürgerrechte, auf die Sache aufmerksam sowie ungnädig wurde. Frau Reding, eine unlyrisch strukturierte Person, wies die Wiener an, den teuren Unfug zu unterlassen.

Die Sprache der Grundrechtecharta sei hinreichend klar, schrieb Reding. "Ich kann nicht erkennen, was durch Ihre geplante Initiative an Zugänglichkeit für die Bürger gewonnen wird. Statt dessen sehe ich das umgekehrte Risiko, dass die Würde der Charta unterminiert wird.” Woran man sehen kann, dass die EU, wenn es drauf ankommt, durchaus der klaren Prosa fähig ist.