Antisemitismus Wo ist die Solidarität mit Israel?
DÜSSELDORF · Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland Shimon Stein diskutiert im Düsseldorfer Landtag mit einem Nahost-Experten. Sein Schlusssatz stimmt bedrückt.
Sein Schlusssatz stimmt bedrückt: Als Shimon Stein am Ende des 90-minütigen Gesprächs im Düsseldorfer Landtag gefragt wird, was er sich von den Deutschen mit Blick auf den aufgeheizten Nahostkonflikt denn nun wünsche, da sagt er: „Verantwortung darf nicht nur eine leere Floskel sein.“ Es dürfe keine Solidarität geben, „die nur eine Woche dauert. Und danach – Schluss.“
Landtagspräsident André Kuper hatte den 75-Jährigen, der von 2001 bis 2007 Botschafter Israels in Deutschland war, eingeladen. Zur Diskussion mit Daniel Gerlach, Experte für den Nahen Osten und die muslimische Welt und Chefredakteur des Magazins Zenith. Thema: „Nach dem Terror-Angriff auf Israel – wie sicher ist jüdisches Leben?“ Anlass zur Sorge gibt es genug. Kuper sagt: „Auch in Deutschland gibt es eine signifikante Zunahme antisemitischer Straftaten. Bei einer Demonstration in Essen wurde nicht nur offen zur Vernichtung Israels aufgerufen, sondern das Ende der Demokratie, ein Kalifat, gefordert.“ Der Hass sei auch in unserem Land nicht nur in den Köpfen einiger weniger zuhause.
Stein geht auch mit seiner Regierung hart ins Gericht
Shimon Stein betont, Israel habe im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Terroranschläge erlebt. Aber das, was am 7. Oktober passierte, habe nichts mit „sogenanntem herkömmlichen Terror“ zu tun. Der frühere Botschafter geht mit Blick auf die bestialischen Mordtaten der Hamas an israelischen Bürgerinnen und Bürgern durchaus kritisch mit seiner eigenen Regierung und dem Militär ins Gericht: „Warum hat der Staat versagt, warum war er nicht in der Lage, das Minimum zu gewährleisten, das er seinen Bürgern schuldig ist: Sicherheit.“
Nahost-Experte Gerlach, der besonderen Einblick in die Befindlichkeiten der arabischen Welt hat, glaubt, die Taten vom 7. Oktober hätten auch dort bei vielen Menschen einen Schock ausgelöst. „Auch wenn sie diesen Schock nicht artikulieren konnten. Weil sie sich nur Stunden später für eine Haltung entscheiden mussten, konnten sie es sich nicht leisten, Empathie zu zeigen.“
Die Haltung der Menschen in Deutschland ist alles andere als eindeutig. Stein stellt die Frage, wie viele Solidaritätsdemonstrationen für Israel es eigentlich gegeben habe – ins Verhältnis gesetzt zu den pro-palästinensischen Kundgebungen. Seine Erklärung für das Missverhältnis: Antisemitismus in der Gesellschaft. Dieser sei seit eh und je Bestandteil der deutschen Kultur.
Stein zitiert aus Analysen, wonach es drei Formen des Antisemitismus in Deutschland gebe. Den klassischen, der behaupte, die Juden hätten zu viel Einfluss. Dieser werde von fünf Prozent der deutschen Bevölkerung getragen. „Und das bei weniger als 200 000 Juden in Deutschland. Welch ein Bullshit“, sagt Stein. Dann gebe es den sekundären Antisemitismus, vertreten von etwa 20 Prozent. Eine Einstellung, die sich mit dem Satz zusammenfassen lasse, es müsse ein Schlussstrich gezogen werden. Schließlich der von 40 Prozent vertretene Israel bezogene Antisemitismus, der legitime Kritik an Israel zum Anlass nehme, „etwas anderes mitzuteilen“, wie Stein sagt. Dabei sei Kritik an Israel durchaus berechtigt, wenn es etwa um die Siedlungspolitik oder religiöse Fanatiker gehe.
Habecks Rede: War sie politisch unklug oder überfällig?
Nur sei eben die Abgrenzung, was denn legitime Kritik sei, schwierig, antwortet Gerlach. „Da wird man nie auf einen Nenner kommen.“ Arabische Staaten hätten das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel akzeptiert, so der Experte. Doch werfe das öffentliche Zurschaustellen der Solidarität mit Israel, etwa die Beflaggung öffentlicher Gebäude mit der israelischen Flagge, in arabischen Staaten und auch in der muslimischen Bevölkerung in Deutschland Fragen auf. Die Parteinahme sei zwar verständlich, spiegle aber nicht unbedingt die Haltung vieler Menschen in Deutschland wider und sei erklärungsbedürftig. Es sei fraglich, ob solche Gesten politisch klug seien. So teile er, Gerlach, auch nicht den Enthusiasmus für die Rede von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), in der dieser die Solidarität mit Israel betont hatte. Das sei nicht geschickt gewesen „mit Blick darauf, wie das in der arabischen Welt und auch anderswo im Ausland ankommt“.
Da widerspricht Stein vehement. Es sei eine längst überfällige Rede gewesen. „Das Ausland war doch gar nicht Adressat der Rede, sondern die Menschen in Deutschland.“ Aber sind die Deutschen angesichts des schwierigen Nahostkonflikts eigentlich genug „ausgerüstet“, um hier eindeutig Stellung zu beziehen?, wird Stein von Moderatorin Vivien Leue gefragt. Dieser verweist darauf, dass die Pro-Palästina-Demonstranten mit Emotionen ausgerüstet seien, das reiche diesen auch, ohne sich mit Details auszukennen.
Stein kritisiert Habecks Parteifreundin, Außenministerin Annalena Baerbock. „Die Sicherheit Israels ist Deutschland Staatsraison, wow. Solidarität, wow, was für eine Freude.“ Aber da frage man sich, was das im Tagtäglichen bedeute. Wieso habe sich die Außenministerin bei Uno nur enthalten – bei der Resolution, „die Hamas nicht erwähnt, die das Recht Israels auf Selbstverteidigung nicht erwähnt, die Gräueltaten vom 7.10. nicht erwähnt? Das ist eine uneingeschränkte Solidarität?“, fragt Stein. „Nicht nach meinem Verständnis.“ Und das mit deutschen Interessen zu begründen, man woll eine Vermittlerrolle spielen – „Give me a break“ (Hört mir damit auf).
Gerlach beleuchtet die Perspektive in der Türkei auf den Konflikt. Im Fernsehen werde die israelische Reaktion Genozid genannt, Präsident Erdogan rede von der Hamas als Kämpfer für eine gerechte Sache. Antisemitismus gebe es auch in anderen Teilen der Welt, insbesondere in Russland. In Europa, insbesondere in Deutschland sei er aber sehr ausgeprägt. Besonders verwerflich sei dabei, dass er „vor dem Hintergrund geschieht, dass Auschwitz stattgefunden hat“. In der arabischen Welt zweifle man nicht an der Historizität von Auschwitz, die muslimische Welt denke Auschwitz bei der Beurteilung des Nahostkonflikts aber nicht mit. Man fühle sich durch den Begriff „muslimischer Antisemitismus in Mithaftung für die Verbrechen der Deutschen genommen“. Gerlach: „Das rechtfertigt mitnichten ausgeprägte antisemitische Positionen, „aber das muss man mit einpreisen.“
Stein findet, dass auch die nach Deutschland Zugewanderten nicht argumentieren dürften, der Holocaust sei nicht ihre Sache. „Zuwanderer müssen sich auch zur Biografie dieses Landes bekennen. Wenn man das nicht will, geht man woanders hin.“
In die Gefahr, hier in die Nähe von AfD-Positionen zu kommen, gerät Stein dabei keineswegs. Angesprochen darauf, dass einzelne Vertreter der AfD wiederholt den Holocaust verharmlost hätten, kommt er richtig in Fahrt. „Diese Partei stellt eine existenzielle Bedrohung für die deutsche Demokratie dar, ich wundere mich über die Gleichgültigkeit der deutschen Zivilgesellschaft.“ In Israel seien bis zum 7. Oktober 40 Wochenenden Hunderttausende auf die Straße gegangen, weil sie Angst hatten, dass die Regierung den demokratischen Status unterwandert. Stein fragt: „Wo sind die Hunderttausenden Deutschen, die auf die Straße gehen, um gegen das zu demonstrieren, wofür diese Partei steht?“
Für Israel steht in diesen Tagen viel auf dem Spiel. Stein zitiert die frühere Premierministerin Golda Meir und sagt: „Wir haben nirgendwo, wohin wir gehen können. Ich möchte nicht noch mal den Rucksack nehmen, mit dem der Jude durch die Welt wandert und von anderen nur toleriert wird.“