Vor dem „chinesischen Jahrhundert“?
China ist auf dem Sprung zur Weltmacht. Das hat wirtschaftliche Folgen, erschüttert aber auch die politische Architektur der Welt.
Düsseldorf. Es sind in der Regel kleine Meldungen, die von der Ankunft Chinas Zeugnis ablegen: Mal eröffnen Chinesen einen Flughafen an der mecklenburgischen Ostseeküste, mal demontiert ein Trupp chinesischer Monteure eine ganze Fabrik aus dem Ruhrgebiet. Und im Stadtbild sind die höflichen Gäste aus Fernost schon lange nicht mehr wegzudenken.
Doch diese scheinbare Normalität der kleinen Schritte verstellt eher den Blick auf die Dramatik der Entwicklung, die China und mit ihm unsere Welt in den jüngsten 30 Jahren genommen hat. Denn wer weiß schon, dass kein amerikanisches Unternehmen, sondern PetroChina nach seinem Börsengang 2006 das größte Unternehmen der Welt ist, mit gut 500 Milliarden Dollar Abstand zum zweitplatzierten ExxonMobil?
PetroChina ist dreimal so groß wie Microsoft und zehnmal größer als der größte deutsche Konzern. Und der Chinese steht auch schon im Wortsinn im deutschen Hausflur: Peking hält zehn Prozent am US-Investor Blackstone, und Blackstone ist nach der Bundesregierung größter Anteilseigner an der Deutschen Telekom und besitzt unter anderem Zigtausende Wohnungen in Deutschland.
China ist schon heute der größte Hersteller von Düngemitteln, Edelstahl oder Klimaanlagen. Jeder dritte in Deutschland verkaufte Computer kommt aus dem Reich der Mitte. Und Experten sind sich sicher, dass China in nur wenigen Jahren auch führend in der Hochtechnologie sein wird. Selbst in den deutschen Domänen Solarenergie und Maschinenbau wird "Made in China" dann konkurrenzfähig sein.
Im Jahr 2004 verfügte Peking über 400 Milliarden Dollar Devisenreserven - Anfang dieses Jahres hatten sie sich auf 1,5 Billionen fast vervierfacht. Allein 2007 betrug der Handelsüberschuss rund 300 Milliarden Dollar: China zog fast gleich mit dem "Exportweltmeister" Deutschland.
Dieser Aufstieg Chinas vollzog sich sanft und fast unmerklich. Blicken wir aber nur 50 Jahre zurück, so ist dieser Wandel - gemessen an historischen Vorbildern wie England, Deutschland oder USA - atemberaubend schnell. Und er hat nicht nur Folgen für das wirtschaftliche Gleichgewicht, er verändert auch die politische Architektur der Welt.
Die schleichende Relativierung der USA und Europas droht umzuschlagen in einen Epochenwechsel. Anfang des 19. Jahrhunderts, des "europäischen Jahrhunderts", war jeder vierte Mensch auf der Erde ein Europäer. Ende dieses Jahrhunderts wird es nur noch jeder 14. sein. Schon heute ist jeder vierte Mensch auf der Erde ein Chinese. Und es spricht vieles dafür, dass dieses Jahrhundert das "chinesische Jahrhundert" sein wird.
Chinas dramatisches Comeback hat aber auch Kosten. Wie die Industrialisierung Europas ist auch der Aufstieg Chinas mit einer Landflucht verbunden. Das Heer der 200 Millionen Wanderarbeiter birgt sozialen Sprengstoff. Es gibt große Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land. Hoffnungen allerdings, dies könne zum Zusammenbruch führen, sind unbegründet: Noch nie in der Geschichte ging es so vielen Chinesen so gut wie heute.
Das größte Problem Chinas ist auch nicht eingeschränkte Meinungsfreiheit, das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit oder die wuchernde Korruption - all dies gibt es und all dies sind ernste Probleme -, sondern die Umweltverschmutzung. Aber dies war beim Aufstieg Englands nicht anders. Und auch das Ruhrgebiet war zu seiner Blütezeit kein Luftkurort.
China hat dieses Probleme erkannt. Seit 2003 wendet sich die Regierung vor allem den Verlierern der Modernisierung zu. Die Leitidee der "harmonischen Entwicklung" soll die bisherige Politik eines rasanten Wachstums um beinahe jeden Preis ohne Rücksicht auf die sozialen und ökologischen Folgen korrigieren.
Die Olympischen Spiele in Peking haben China in den Blickpunkt gerückt. Unsere Zeitung wird die nächsten Wochen bis zum Beginn der Spiele nutzen, um in einer Serie das, was hier nur knapp angesprochen wurde, eingehender zu beleuchten. Führt die wirtschaftliche Öffnung zu einer Demokratisierung? Ist die Umweltverschmutzung noch zu stoppen? Und was bedeutet der Aufstieg für die internationale Politik? Das sind nur einige Themen der nächsten Tage.