Gilles und Apfelsinenregen: Karneval von Binche

Binche (dpa/tmn) - Einmal im Jahr herrscht Ausnahmezustand in Binche. Zur Karnevalszeit treiben die tanzenden Gilles ihr Unwesen in der südbelgischen Stadt. Am Fetten Dienstag kommen selbst Faschingsmuffel auf ihre Kosten.

Die Straßen liegen noch menschenleer im fahlen Laternenlicht. Gerade hat die Kirchturmuhr 4.30 Uhr geschlagen. Olivier de Angelis gähnt und reibt sich die Augen. „Halt doch endlich still“, ruft sein Vater Guy und stopft dem 45-Jährigen Unmengen Stroh unter die Jacke. Er zerrt, drückt, klopft und mustert schließlich seinen Sohn von allen Seiten. Er ist zufrieden: Aus Olivier ist ein Buckliger mit spitzenbesetzter Halskrause und Haube geworden, eingezwängt in einem rot-gelb verzierten Anzug. „Voilà, das ist ein echter Gille“, sagt Olivier.

Bereits seit zwei Tagen ist die belgische Stadt Binche, rund 60 Kilometer südlich von Brüssel, im Karnevalsrausch: Am Fetten Sonntag dürfen auch die Frauen mitmachen. Der Mardi Gras - der Fette Dienstag - aber ist reine Männersache: Ein weiblicher Gille am wichtigsten Tag des Carnaval de Binche? Undenkbar.

„Da halten wir uns gerne raus“, sagt Oliviers Ehefrau Marie-Anne und winkt ab. „Emanzipation hin oder her, mir wäre das zu anstrengend.“ Immerhin sind die Gilles fast 24 Stunden lang auf den Beinen. Ihre ausgestopften Kostüme legen sie die ganze Zeit nicht ab. Ein Privileg haben die Gilles am Mardi Gras immerhin: Sie ernähren sich größtenteils von Champagner und Austern.

Freunde und Verwandte drängen sich im Wohnzimmer, um die Verwandlung zum Gille zu beobachten. Champagnerflaschen machen die Runde, grobe Wurst- und Käsestücke werden gereicht. Um kurz vor 5.00 Uhr dröhnen Trommelwirbel von draußen herein. Olivier muss los. Auch sein Sohn Adrien ist mittlerweile umgezogen. Der 14-Jährige läuft zum ersten Mal bei dem Umzug mit. Vorher war er bei den Harlekinen.

Auf der Straße warten die „Tambours“ der Karnevalsgesellschaften. Sie gehen mit ihren großen Trommeln von Haus zu Haus, um jeden Gille abzuholen und zu den Umzugstreffpunkten zu bringen. Kommt ein neuer Gilles hinzu, wird in dessen Haus ein Glas Champagner getrunken. Dann geht es zum treibenden Rhythmus in Trippelschritten weiter. Bald klackern und läuten die Holzschuhe und Glockengürtel von mehr als 1000 Gilles durch die Gassen.

Begleitet werden die Gruppen von unkostümierten Freunden und Verwandten. Bald schon wippen sie im gleichen Rhythmus wie die Gilles. „Dieses Klackern ist einfach magisch“, sagt eine Frau aus Tournai an der Grenze zu Frankreich. „Fast wie Hypnose: Man muss einfach mitmachen.“

Der Bincher Karneval gilt als einer der ältesten der Welt. Seine Anfänge sollen bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen. Auskunft über die Herkunft der Gilles gibt das Internationale Karnevals- und Maskenmuseum im Ort: 1549 soll Maria von Ungarn zu Ehren ihres Bruders, Kaiser Karl V. und König von Spanien, ein Fest organisiert haben. Zur Feier der jüngsten Eroberungen in Südamerika verkleideten sich die Menschen mit Federn als Inkas. Daran erinnert heute noch der Federhut der Gilles.

Die Gilles sind stolz auf ihre Stadt und ihre Bräuche. Gille werden kann nur, wer in der etwa 33 000 Einwohner großen Gemeinde Binche geboren ist. „Ein echter Gille verlässt seine Heimat niemals“, sagt Olivier mit Nachdruck. Immerhin ist das Jeckenfest nicht irgendein Karneval: 2003 setzte die Unesco das Spektakel auf die Liste des immateriellen und mündlichen Weltkulturerbes.

Mittlerweile haben Olivier und sein Sohn mit ihrer Gruppe den Treffpunkt der Société Les Réguénaires erreicht. Das sind die Verrückten, Albernen. In Binche gibt es 13 Gesellschaften. Von den etwa 10 000 Innenstadt-Bewohnern ist fast jeder irgendwie mit ihnen verbunden.

Schon Tage vorher haben die Bincher vor ihren Fenstern Rahmen mit Maschendraht angebracht. Denn jetzt schmeißen die Karnevalisten Apfelsinen in die johlende Menge - und gegen die Fassaden. Am Anfang der Avenue Charles Deliège treffen sich die Gesellschaften und nehmen Formation ein. Der Umzug wird immer chaotischer. Die Trommel- und Blasmusik dröhnt ohrenbetäubend. Tausende Schaulustige säumen den Straßenrand, bald ist kein Durchkommen mehr auf den abgesperrten Bürgersteigen.

Wie ein Ungeheuer spuckt die enge Avenue schließlich die Feiernden auf den Rathausplatz. Die Gilles tanzen unermüdlich im Kreis, bis nach Einbruch der Dunkelheit ein Feuerwerk das Fest beendet. Dann geht es in die Kneipen: Befreit von zeremoniellen Pflichten können sich die Gilles endlich treiben lassen.

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