Auf der Couch - Mit Sigmund Freud von Wien nach London
Wien/London (dpa/tmn) - Vor 75 Jahren starb Sigmund Freud. Wer auf seinen Spuren wandeln will, muss zwei Städte besuchen: die Hülle seiner Praxis in Wien und deren Inhalt in London. Die beiden Orte verbindet eine dramatische Flucht am Ende von Freuds Leben.
Es ist das Treppenhaus des mulmigen Magengefühls. Gründerzeitlich ausladend und verschwenderisch verziert, führt es vom Eingang in der Hofzufahrt in Wien hinauf in den ersten Stock. Alle Patienten mussten sich durch dieses Treppenhaus zu ihm emporbemühen. Wie viele mögen in diesen Momenten noch an Umkehr gedacht haben?
Die Tür steht keinesfalls offen, man muss selbst den Klingelknopf drücken. Ein letztes Innehalten - der Ton ist durchdringend schrill. Nun gibt es kein Zurück mehr. Die Tür öffnet sich: „Grüß Gott, Sie werden schon erwartet!“ Wenn man auf das Türschild schaut, könnte man meinen, es wäre immer noch er, der da wartet: „Prof. Dr. Freud“. Der Seelendoktor aus der Berggasse 19.
Seit 43 Jahren ist seine ehemalige Praxis mit angeschlossener Privatwohnung ein Museum, aber bis hierher fühlt es sich nicht an wie ein Museumsbesuch, eher wie ein Gang zum Arzt.
Was die Besucher am meisten interessiert, ist das Sofa an der Wand des Wartezimmers. Ist es die Couch? Die Couch, auf der alle Patienten gelegen haben. Aber das Sofa ist wirklich nur ein Sofa, nicht die Behandlungscouch.
Das Wartezimmer war aber auch Schauplatz der sogenannten Mittwochsgesellschaften. Einmal in der Woche versammelte Freud dort seine Weggefährten um sich. „Ein exquisit geselliges Unternehmen“, fand er. Die meist etwa zehn Teilnehmer - Freud nannte sie seine „Bande“ - tranken schwarzen Kaffee und pafften ohne Unterlass. Einmal warf Freuds Sohn Martin spät abends, als sich der Kreis gerade aufgelöst hatte, einen Blick in das völlig verrauchte Zimmer, „und es erschien mir wie ein Wunder, dass darin Menschen stundenlang gelebt, ja gesprochen hatten, ohne zu ersticken“.
Freud selbst rauchte Tag für Tag 20 Havanna-Zigarren. Sein Aschenbecher zählt heute zu den Heiligtümern des Museums. Das dunkle Gegenstück dazu ist der kleine Spiegel am Fenster von Freuds Studierzimmer: Dort überprüfte er in späteren Jahren vor jedem Patientenbesuch, ob seine Kieferprothese richtig saß. Während seiner letzten 16 Lebensjahre litt Freud an Oberkieferkrebs. In 33 Operationen mussten immer größere Teile des Knochens entfernt werden. Geklagt hat der alte Stoiker nie.
Hinter dem Wartezimmer befindet sich das Behandlungszimmer. Wer es heute betritt, kann nur enttäuscht sein: Das Zimmer ist leer. Fotos zeigen, wie es in Freuds Tagen ausgesehen hat: Man tauchte ein in die milde Exzentrik des Fin de Siècle - alles bis aufs letzte Fleckchen war zugestellt und vollgehangen. Mittendrin stand die Couch. Aber wo ist sie heute?
Eine Ausstellung in Freuds früheren Wohnräumen gibt Aufschluss. Wie Wäschestücke an der Leine hängen dort die Telegramme, die im Frühjahr 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland zwischen der amerikanischen Botschaft und dem US-Außenministerium hin- und hergingen. Der 81 Jahre alte Freud war damals längst eine Ikone, das strenge Gesicht mit den dunklen forschenden Augen und dem sorgsam gestutzten Bart schon weltweit bekannt. Aber auch das bot ihm als Juden keinen verlässlichen Schutz vor den Nazis.
Amerikaner und Briten setzten alle Hebel in Bewegung, um Freuds Ausreise sicherzustellen. „Wien Westbahnhof“ steht noch auf dem alten Koffer im Museum. Am 4. Juni 1938 verließ Freud mit seiner Familie die Stadt, in der er fast sein ganzes Leben verbracht hatte, 47 Jahre davon allein in der Berggasse. In drei Waggons nahm er die gesamte Einrichtung mit, ausnahmslos alles. Auch die Couch. Was heute noch im Museum steht, hat Anna Freud später als Geschenk nach Wien zurückgegeben. Stock, Hut, Brille, Arzttasche und Griffel sind darunter, die ganze Wartezimmereinrichtung, die Garderobe. Aber nicht die Couch. Nachbauen will man nichts, gerade die Leere erzählt eine Geschichte: „Wir sind ein Museum des Gedenkens an den Holocaust“, sagt Geschäftsführer Peter Nömaier.
Wer die Couch sehen will, muss nach London. Nicht in die Innenstadt, sondern in Londons „schönstes Dorf“, nach Hampstead, den hoch gelegenen Vorort der Cottages und Landhäuser. Für die letzten zwölf Monate seines Lebens hieß seine Adresse 20 Maresfield Gardens.
Es ist eine ganz andere Welt als die Berggasse. Weiße Fensterrahmen im roten Backstein, Efeuranken, Rosen und rauschende Bäume. Wer die Berggasse kennt, stellt sofort fest, wie luftig und geräumig die Villa in Hampstead ausfällt.
Im Erdgeschoss wurden die Möbel aus der Berggasse wieder aufgebaut: der Schreibtisch, auf dem Haushälterin Paula Fichtl Freuds Lieblingsgötter sorgfältig wieder in der alten Reihenfolge aufstellte. Der schlanke Schreibtischstuhl mit den ausgreifenden Armlehnen. Und die Couch.
Da steht es nun, das Rosshaarsofa, das „mehr Geheimnisse kennt als ein katholischer Beichtstuhl“, wie es Freuds Patientin Hilda Doolittle gesagt hat. Der Anblick ist einigermaßen überraschend, denn die Couch sieht gar nicht aus wie eine Couch, eher wie ein orientalischer Divan. Unförmig ist sie, wulstig und ebenso niedrig wie kurz. Die eigentliche Couch - ein unansehnliches graues Ding, das Freud 1890 geschenkt bekam - ist dabei vollkommen unter einem Perserteppich verborgen. Dicke Samtkissen scheinen eher zum Schlafen einzuladen als zur Seelenerforschung.
In London allerdings hat Freud die Couch kaum noch nutzen können. Die Krankheit verschlimmerte sich schnell, er starb kurz nach Kriegsbeginn am 23. September 1939.
Seitdem befindet sich die Hülle seiner Praxis in Wien, der Großteil des Inhalts in London. Man muss zweimal reisen, um es zu sehen, und beides im Kopf selbst zusammensetzen.