Ein „Zoch“ der anderen Art
Unterwegs mit dem Bollerwagen auf den Spuren des Grünkohl-Kults.
Oldenburgermünsterland. Der Himmel ist grau, und es hat eine Zeitlang geregnet. Für eine Kohltour im Oldenburger Münsterland ist das egal. Am liebsten ist vielen Niedersachsen aber, wenn es dabei frostig-kalt zugeht, Raureif auf den Wiesen liegt und Eis und Schnee unter den Füßen knirschen. Kohltouren gehören in die kalte Jahreszeit. Wärme soll schließlich die Bewegung bringen: Mit Bollerwagen und Boßelkugeln sind die Kohlfahrer einen Nachmittag lang unterwegs und legen locker Strecken im zweistelligen Kilometerbereich zurück.
Pausen gibt es oft, etwa beim Passieren von Kreuzungen, Bachläufen oder Seitenstraßen. Je nachdem, wie streng die jeweiligen Regeln ausgelegt werden, muss man bei jedem Halt aus dem kleinen Becher, den alle um den Hals baumeln haben, Alkoholisches trinken, oft von zweifelhafter Farbe und Konsistenz. Kräuterlikörartiges kommt dabei ebenso zum Einsatz wie die bunten Fruchtaroma-Spirituosen, für die die Brennereien im benachbarten Emsland berühmt-berüchtigt sind.
Ausgesprochen Kohltour-erfahren sind die "Royalisten", eine Thekenmannschaft aus Wildeshausen am Rand des Oldenburger Münsterlands. Kohlkönig Klaus steht auf dem Hof vor seinem Haus und kümmert sich um letzte Details: Kohlkönig ist nur bedingt ein majestätischer Job, und längst nicht jeder will es werden. Das liegt auch daran, dass der Betreffende nach geltender Überlieferung moralisch verpflichtet ist, die nächste Kohltour zu organisieren.
Außer Arbeit hat der Kohlkönig nicht viel von seinem Amt, abgesehen von einem Rinderunterkiefer, den er als Zeichen seiner Würde an einer Kette um den Hals tragen darf. Und er hat das Recht, während der Kohltour launige Reden zu halten. Zuerst aber werden alle Anwesenden in zwei Gruppen eingeteilt, die miteinander wetteifern müssen.
Wer schon Durst hat, greift sich die erste Flasche Bier, wer nicht sicher ist, wann der Hunger kommt, hängt sich auch eine Brezel um. Die Strecke, die König Klaus ausgesucht hat, ist gut ein Dutzend Kilometer lang und führt bis zum Schützenhof in Visbek-Rechterfeld. Das liegt jenseits der Grenze, die Wildeshausen im traditionell evangelischen Landkreis Oldenburg vom noch viel traditioneller katholischen Oldenburger Münsterland im Landkreis Vechta trennt. Landschaftlich geben sich beide nicht viel. Der Blick reicht zwar nicht überall bis zum Horizont, aber die Gegend ist eher flach, die wenigen Steigungen sind auch für den Bollerwagen kein Problem.
Langsam bewegen sich die Kohltour-Teilnehmer vorwärts. Dabei wird eifrig geboßelt. Boßeln ist ein Spiel, das aus Ostfriesland stammt und bei dem zwei Mannschaften immer wieder eine Hartgummi-Kugel so weit wie möglich werfen und rollen lassen müssen. Wer am Schluss die wenigsten Würfe gebraucht hat, gewinnt. Eine der Schwierigkeiten besteht darin, die Kugel immer wiederzufinden - vor allem, wenn ungeschickte Werfer sie über den Straßenrand hinausrollen lassen. Das Suchen kann durchaus lustig sein, wie das Boßeln überhaupt.
Der Weg ist bei Kohltouren das Ziel. Und am Ende des Weges liegt das Schützenhaus von Rechterfeld. Dorthin streben an den Wochenenden im Winter oft Kohltour-Teilnehmer aus allen Himmelsrichtungen - und es werden sogar noch mehr, seit Kohltouren im Oldenburger Münsterland auch als Pauschalpaket zu buchen sind. Zeitgleich mit den Gruppen treffen oft noch Dutzende andere Besucher ein, die auch Grünkohl essen wollen.
Grünkohl, der ursprünglich im Umland von Oldenburg und Bremen als Wintergemüse beliebt war, ist inzwischen auch im Oldenburger Münsterland Kult. So wird im Schützenhaus von Rechterfeld eine Portion Grünkohl mit Pinkel und Salzkartoffeln nach der anderen verspeist. Wenn das Essen vorbei ist, ist die Kohltour noch lange nicht zu Ende - denn dann wird im Oldenburger Münsterland die Musik aufgedreht und getanzt, bis der Schnaps ausgeht.