Estland: Marsch zu den Moorgeistern
Ein Reiseziel, das mit seinem kulturellen Angebot und mit ganz viel Natur punktet.
Tallinn. Estland - für die meisten ist das Tallinn, die Hauptstadt, die 2011 zusammen mit dem finnischen Turku Kulturhauptstadt Europas sein wird. Doch Estland ist viel mehr: Da sind die prunkvollen Herrenhäuser, von adligen Deutschbalten in die Landschaft gestellt. Da sind die reizvollen Strandbäder, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Und da ist die Landschaft des jungen Baltenstaats, weit und menschenleer.
Wie das Moor im Nationalpark Laheema. "Land der Buchten" ist die Übersetzung. Die Gegend ruht wie hingeschmiegt am Finnischen Meerbusen. Auf 680Quadratkilometern stehen dunkle Fichten neben lichten Kiefernwäldern und mit Wacholder bewachsenen Kalksteinplateaus. Es gibt Strände, Flüsse, Bäche und natürlich Moor. Das Wasser gluckst unter den schwankenden Holzplanken, auf denen sich die Menschen im Gänsemarsch durch den Sumpf bewegen.
Libellen surren über die glitzernden Wasserflächen der kleinen Seen, die aus dem braunroten Moos schauen wie blaue Augen. Die Bäume tragen lange Bärte und wirken mit ihren kahlen Ästen wie gespenstische Skelette. Schaut da etwa ein Elch hinter dem Gehölz hervor? Tappt ein Braunbär durchs weiß bezipfelte Wollgras?
Sie müssten taub sein, bei all dem Krach der Besucher hier aufzutauchen. Was für ein Gekicher und Gekreische, wenn einer daneben tritt und den verdreckten Schuh mit einem fetten Quatschen aus dem Sumpf zieht. Oder wenn einer ein Foto machen will und die ganze Menschenschlange stillstehen muss.
Nur hin und wieder laden Plattformen ein, auch mal stehen zu bleiben und sich umzuschauen. Zwischen Heidekraut und Moltebeeren, Sumpf und Torfmoos verstecken sich keine Ungeheuer, nur ein paar Fleisch fressende Pflanzen wie der lang blättrige Sonnentau. Vorn ragt ein Aussichtsturm in die Höhe, lädt dazu ein, von oben hinunterzuschauen auf die unwirkliche Landschaft.
Plötzlich Stille. Nur das Zwitschern der Vögel und das Glucksen des Wassers sind zu hören. Im Spiegel der Seen schwimmen weiße Wolken, das Moos ist grün und erdfarben und manchmal rot - wie verhext. Waren es Moorhexen, die diese Landschaft zauberten, Waldgeister? Oder doch Kalivipoeg, der sagenhafte Riese, den die Jahrhunderte lang unterdrückten Esten zur Symbolfigur erhoben. Wahrscheinlich hätten sie auch gern mit großen Steinen nach den arroganten Eindringlingen geworfen, die sie behandelten wie Leibeigene.
Dänen waren da, Schweden, Deutsche und Russen. Zu Sowjetzeiten war auch das Gebiet des Nationalparks Sperrzone. Esten brauchten eine Sondergenehmigung, um Laheema zu besuchen. Zäune verbauten die Sicht auf das Westmeer, wie die Ostsee in Estland heißt.
Jetzt ist der Blick auf das Meer wieder frei und überall im blassblauen Wasser sieht man die mannshohen Findlinge, die der Riese Kalivipoeg in die Wellen geschleudert haben soll. Weder die Schmuggler, die im vergangenen Jahrhundert Branntwein über das Westmeer nach Finnland brachten, noch die Kapitäne aus Käsmu ließen sich allerdings davon schrecken.
62Kapitäne lebten in dem kleinen Dorf vor mehr als hundert Jahren, eine Seefahrtschule gab es und eine stolze Seefahrer-Flotte. Heute allerdings sticht hier kaum noch jemand in See. Dafür gibt es im "Dorf der Kapitäne" ein Meeresmuseum und Sommerhäuser für Touristen.
Wenn die See ruhig ist, kann man auf dem Findlingsfeld über das Wasser wandeln bis hinüber zur Insel Saartneem. Verwaltet wird der Nationalpark vom Gutshaus Palmse aus, das Nationalpark-Büro ist in der Remise des hochherrschaftlichen Hauses untergebracht.
Im 13.Jahrhundert gründeten hier die Zisterzienser ein Landgut, das 400 Jahre später an das deutsch-baltische Adelsgeschlecht derer von Pahlen ging, die es zu einem Schlösschen umbauten. Länger als 700 Jahre lebten die Deutsch-Balten in ihren schlossähnlichen Gutshäusern mit allem erdenklichen Luxus.
Gut Sagadi im Osten des Nationalparks, im Jahr 1749 erbaut, ist heute ein Museum. Die Esten kommen in Scharen, um die prunkvollen Möbel aus vergangenen Zeiten zu sehen, die üppigen Bilder, die gold gerahmten Spiegel. Ein bisschen Nostalgie ist dabei - und Stolz.
Der Stolz darauf, es geschafft zu haben, die Zukunft Estlands in die eigenen Hände zu nehmen.