Xi’an: „Eine tapfere kaiserliche Armee“
Die Terrakotta-Krieger in der Grabanlage des ersten chinesischen Kaisers gelten als das „achte Weltwunder“.
Xi’an. Es war kein Schliemann, der - mit der Ilias im Tornister - zu wissen glaubte, wonach er suchte. Es waren der Bauer Yang Quanyi und fünf seiner Kollegen, die am 29.März 1974 in einem Dorf nahe der alten Kaiserstadt Xi’an einen Brunnen vier Meter in die Tiefe trieben und dabei auf eine bronzene Armbrust und einige merkwürdige gebrannte Tonfiguren stießen. Der Zufallsfund, später von Experten gesichert, entpuppte sich als die größte archäologische Sensation des 20. Jahrhunderts: Die Terrakotta-Armee in der Grabanlage des ersten chinesischen Kaisers Quin Shi Huangdi aus dem Jahr 206 v. Chr.
Seit 1987 ist die Grabungsstätte in Zentralchina mit den rund 7200 lebensgroßen Terrakotta-Kriegern eine riesige Museumsanlage, die inzwischen schon über 50 Millionen Besucher aus aller Welt angelockt hat. Und viele von ihnen haben dabei am Eingang des Informationstraktes einen kleinen alten Mann sitzen sehen, hinter einem schmucklosen Tisch, eine langstielige Pfeife vor sich und zwei Schilder, die auf chinesisch und englisch gebieten: "No photo" - "No video". Über sich aber ein überlebensgroßes Foto aus dem Juni 1998, das US-Präsident Bill Clinton mit dem chinesischen Amtskollegen Jiang Zemin und ihn selbst zeigt: den Bauern Yang Quanyi.
Täglich sitzt er da, wenn es die Gesundheit des jetzt über 70-Jährigen zulässt, täglich ziehen tausende chinesische Touristen an ihm vorbei, Schulklassen und Reisegruppen, verbeugen sich kurz vor dem alten Mann und klatschen, als gelte es, den Schöpfer der Terrakotta-Armee persönlich zu feiern. Und Yang lächelt weiter still vor sich hin, vielleicht noch eine Spur huldvoller, aber insgesamt doch so versonnen und professionell, wie es eine nun fast schon mehr als 20jährige Routine erwarten lassen darf.
Beifall und Verehrung gelten nicht nur dem Mann, sondern vor allem der Idee China. Die naiv-heroische Begeisterung ist gewollt, das gesamte Museum mit seinen beeindruckenden Funden ist auch ein Stück Geschichtsunterricht für die ohnehin von ihrer Geschichte überzeugten Chinesen. Der erste Kaiser der Quin-Dynastie, der nach den Jahrhunderten der "Streitenden Reiche" um 220 v. Chr. das Land vereinte, soll dabei durchaus zugleich als Vorbild und Warnung der aktuellen Politik dienen. Die enorme Kulturleistung der Reichseinheit mit Vereinheitlichung der Schrift, der Einführung verbindlicher Maße und Gewichte und eines einheitlichen Rechts wird stets kontrastiert mit der gnadenlosen Feudalherrschaft, die die Quin-Dynastie schon kurz nach dem Tod des Kaisers wieder zusammenbrechen ließ.
Und so steht sie nun, in drei großen Ausgrabungshallen, die "tapfere kaiserliche Armee", die Quin Shi Hunangdi auf dem Weg ins Jenseits begleiten sollte. Mehr als 700000 Arbeiter und Handwerker sollen an den Arbeiten der schon zu Quins Lebzeiten begonnenen Grabanlage beteiligt gewesen sein. Und schufen ein Kunstwerk, das heute als das "Achte Weltwunder" gilt und auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes steht.
Besondere Prunkstücke stellen zwei Reisewagen dar, bei denen es sich aber nicht um reisetaugliche handelt, sondern um Nachbauten als Grabbeigabe. Jedoch hat Kaiser Quin Shi Huangdi über derartige Gefährte verfügt, weil er mehrere Inspektionsreisen durch das Reich unternommen hat. Der technische Standard der restaurierten Objekte repräsentiert höchstes Niveau und gehört, so jedenfalls die chinesische Auffassung, mit zum Besten, was aus der Bronzezeit in unseren Tagen gefunden wurde. Die Reisen standen im Dienst der Idee, die Reichseinheit zu wahren. Wenn in der aktuellen Bewertung der Regierungszeit des Kaisers Quin Shi Huangdi dies immer wieder hervorgehoben wird, dann steckt dahinter auch eine politische Botschaft.
Chinas Trauma ist seine immer wiederkehrende Erfahrung politischer Ohnmacht. Über Jahrhunderte wurde es von fremden Mächten kontrolliert oder war von innerem Zerfall bedroht, weil sich regionale Machthaber wechselseitig bekriegten. Dies nie wieder zuzulassen, ist gewiss einer der Gedanken, weswegen am Quin-Kaiser gerade die Verwirklichung der Reichseinheit als historisch bemerkenswert dargestellt wird. Gleichzeitig aber kritisiert man die unnachgiebige Härte und den Despotismus, die den Zentralisierungsprozess begleitete. Diese Faktoren gelten als Ursache für den Sturz der Dynastie.
Diese offizielle Einschätzung erinnert wohl nicht zufällig an Mao Tsetung. Das Sündenregister des Kaisers liest sich wie eine Kritik an Maos Kulturrevolution: Quin Shi Huangdi vernichtete die geistige Führungselite, Konfuzianer wurden lebendig begraben, schriftliche historische Überlieferung verbrannt. Die hemmungslose Gewaltherrschaft führte das Reich ins Chaos. Die unausgesprochene Lehre: So wichtig und unverzichtbar die Einheit des Reiches auch ist, sie könne nur auf "Harmonie" gegründet sein.
So aber machten Bauernaufstände um 200 v. Chr. der Quin-Dynastie eine Ende. Damit begann auch der Verfallsprozess dieser gewaltigen Grabanlage. Bei den Ausgrabungen fand man Teile der Gewölbedecke eingestürzt, und die Wände wiesen Brandspuren auf. Die tönernen und mit Farbe bemalten Krieger lagen umgestürzt und zerschlagen am Boden. Die Bilder erinnern an in einer Schlacht gefallene Soldaten. Der Zustand der Verwüstung wird auf Brände zurückgeführt. Die hölzerne Stützkonstruktion stürzte als Folge ein.
Bei aller Verwüstung ist verblüffend, welche Lebensechtheit die Figuren ausstrahlen. Dies wird durch individuelle Gestaltung von Tracht, Physiognomie und Frisur erreicht, die jedem Terrakotta-Krieger zueigen ist. Unterstrichen wird dies durch die Farbgebung, die jeder Gestalt besondere Lebendigkeit verleiht. Lange barg die Farbe ein Geheimnis, denn sie verlor sich beim Kontakt mit der Außenluft. Erst jetzt ist es in Zusammenarbeit mit bayerischen Wissenschaftlern gelungen, die lackierte Oberfläche zu konservieren.
Neben dem großen Areal, das bisher ausgegraben worden ist, wartet aber für die Zukunft eine noch größere Aufgabe auf die Archäologie: die Ausgrabung des Grab-Tempels des Kaisers Chin Shi Huangdi. Nach einem Bericht aus der Zeit um 100 v. Chr. kann man auf phantastische Dinge hoffen: Die Welt wurde unterirdisch nachgebaut, Flüsse und Seen aus Quecksilber, ein Deckengewölbe als Abbild des Firmaments, eine Tempelanlage mit nie gesehenen Schätzen. Man wird sehen, wie viel Wahrheit im Bericht des Sima Quian enthalten ist.