Roadtrip durchs Baltikum: Ostseeurlaub an Küsten, auf Inseln – in schönster Natur und ohne Massentourismus Estlands entlegene Eilande

Von Claudia Kasemann

 Weite, wohin das Auge reicht: Blick vom Leuchtturm auf die Landzunge im Süden Saaremaas.

Weite, wohin das Auge reicht: Blick vom Leuchtturm auf die Landzunge im Süden Saaremaas.

Foto: Estland Saaremaa Foto Robert Möginger


Birken, schlank und hoch, in sattem Grün: Zu hunderttausenden säumen sie Estlands Straßen und scheinen durchs Bild zu laufen wie Landschaftskulissen in alten Filmen. Gemütlich ist die Fahrt ans Meer, doch plötzlich:  Vollbremsung!  Weiter vorn stoppt das einzige Fahrzeug weit und breit abrupt ab. Ein Hindernis, ein Notfall? Fast. Im schönster Ruhe watschelt eine Entenfamilie über die Fahrbahn und darf sich dafür alle Zeit  der Welt nehmen.

Auf Saaremaa hat es niemand eilig. Die Enten nicht, Millionen von Zugvögeln nicht und die Bewohner schon gleich gar nicht. Rund 36 000 sind es gerade einmal auf der viertgrößten Ostseeinsel, die etwas größer ist als das Saarland.

Hauptort und Basis für Touren ist das Städtchen Kuressaare, vom Deutschen Orden einst als Arensburg angelegt. Die gleichnamige festungsartige Bischofsburg aus dem 14. Jahrhundert inmitten eines weitläufigen Parks verblüfft  allein schon wegen ihrer enormen Dimensionen. Anderswo wäre eine solche Anlage wohl ein tägliches Ziel von  Ausflugsbussen und Reisegruppen. Aber wie ganz Saaremaa wirkt der Ort tiefenentspannt und weit weg vom Massentourismus. 

Zu entdecken gibt es auch im spärlich besiedelten Hinterland dennoch einiges. Etwa die bis zu 20 Meter hohe Steilküste von Panga, wo sich bis 1991 die  Außengrenze der Sowjetunion erstreckte, damals schwer bewachtes Sperrgebiet. Oder der Leuchtturm am Ende einer einsamen Halbinsel, von dessen Spitze sich grandiose Ausblicke ergeben. Und natürlich Strände, am schönsten vielleicht jener im Süden bei Mändjala, gesäumt von duftenden Kiefernwäldern. Das Wasser ist seicht und wird schon früh im Jahr  warm, ideal für Kinder und bei entsprechender Witterung auch für (Wind-)Surfer.

Freundliche Riesen
und Fische mit blauen Gräten

Irgendwie passend zum diskreten Charakter Saaremaas: Der Riese Töll und seine Gefährtin Piret, beide ebenso gutmütig wie kauzig, beschützen der Legende nach die Insulaner in Notlagen aller Art. Eine herrlich schrullige Skulptur an der Uferpromenade Kuressares  zeigt die Hünen bei der Rückkehr vom Fischen.

Apropos: Unbedingt probieren sollte man den hier heimischen Hornhecht vom Grill - der einzige Fisch mit blauen Gräten. Besonders stilvoll serviert wird er im reich verzierten Kursaal im Stadtpark, wo man im Sommer auf der Terrasse mit Burgblick speist. Zu erreichen ist Saaremaa am besten mit dem Auto, das sich für einen gemütlichen Road-Trip durch das kleine baltische Land anbietet.

Wer noch mehr vom Land sehen und sich von Süd nach Nord vorarbeiten will, fliegt beispielsweise in die lettische Hauptstadt Riga und beginnt dort die Fahrt. Erstes Etappenziel ist  Pärnu mit seinem drei Kilometer langen Sandstrand und der charmanten Altstadt mit ihren bunten Holzhäusern.

Roadtrip: Gemütlich
quer durchs Land

Gegründet im 13. Jahrhundert und als Hanse-Niederlassung  Pernau genannt, später schwedisch, dann russisch, sowjetisch und schließlich estnisch, ist Pärnu heute ein beliebtes Ferienziel für Familien. Zu Saisonbeginn übergibt der Bürgermeister von Tallinn jedes Jahr die Hauptstadtrechte an den hiesigen Amtskollegen - rein symbolisch, versteht sich.

Tradition hat auch der Kurbetrieb in Pärnu. Schon ab 1838 kamen die Schlammbäder in Mode, und zahlungskräftiges Publikum aus Skandinavien, Deutschland und Russland genoss bald das Ostsee-Heilklima in vollen Zügen. Das erste Kurhotel von damals ist auch heute wieder der Platzhirsch am Strand: Das famose „Hedon Spa“ vereint Elemente des historischen Säulenbaus mit zeitgemäßer nordischer Architektur.

Wie das ganze Land, so haben auch Estlands Inseln eine wechselvolle Geschichte hinter sich und sind jede für sich einen Besuch wert. Nach Pärnu ist das nächste Etappenziel die kleine Insel Muhu, erreichbar in knapp einer halben Stunde per Autofähre. Von dort geht es über einen befahrbaren Damm weiter nach Saaremaa – wo sich ein mehrtägiger Stopp mit Ausflügen und Badetagen empfiehlt.

Von Saaremaa in
die Hauptstadt  Tallinn

Ein wenig urbanes Flair zum Finale der Tour: Tallinn, das alte Reval,  ist das florierende  Zentrum Estlands. Hier leben rund 450.000 der insgesamt 1,3 Millionen Esten. Das Stadtbild ist ein spannender Mix aus Mittelalter, Jugendstil bis Postmodern, und an allen Ecken und Enden wird gebaut, es herrscht Aufbruchsstimmung. In puncto Digitalisierung und „E-Government“ ist das kleine Land ohnehin ganz groß, freies W-Lan gibt es so gut wie überall. Entlang der schönen Promenade zwischen Hafen und Stadtstrand hört man noch immer viel Russisch - die Muttersprache von 43 Prozent der Stadtbevölkerung. Als ihr unübersehbares Wahrzeichen thront die orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale über der Stadt.  Ein wenig St. Petersburger Pracht verströmt das barocke Schloss Katharinental. Aber die Zeiten haben sich geändert. Hatten russische Tallinner bis zur Unabhängigkeit 1991 noch das Sagen in Wirtschaft und Kultur, so gibt nun die  estnischsprachige Mehrheit den Ton an.  

Doch bei sommerlicher Atmosphäre in den „Weißen Nächten“, wenn in den Gassen um den Domplatz gefeiert wird, sind sie alle im Hier und Jetzt. Lieblingsorte in der von meterdicken Bastionsmauern umringten Oberstadt sind die Aussichtsterrassen mit fantastischem Blick über Stadt, Hafen und hinaus auf den Finnischen Meerbusen. Und es sind eben nicht nur solche Fotomotive, die Tallinn auszeichnen. Im früheren Industriepark Telliskivi etwa hat sich ein Kreativquartier  etabliert, und ganz aktuell schmückt sich Tallinn mit dem EU-Ehrentitel „Umwelthauptstadt Europas 2023“. Zum preisgekrönten Konzept gehören Radwege, kostenloser ÖPNV, 80 innerstädtische Bienenstöcke und natürlich ein Herz für Birken - die Nationalbäume Estlands.

Die Autorin reiste mit Unterstützung von Visit Estonia