50 historisch einzigartige Parks und Gärten bilden in Sachsen-Anhalt das Netzwerk „Gartenträume“ Bei den Harzer Gartenfrauen
Ein Ast hat sich wie ein kräftiger Fuß auf dem Boden abgestützt, ein anderer ruht wie der Tentakel eines Riesenkalmars direkt daneben. Falten und Risse, Narben und Löcher bedecken den Stamm der mehr als 300-jährigen Linde im Hof von Kloster Drübeck bei Wernigerode.
Wunden klaffen in der Rinde, manche schon seit langem vernarbt – dazwischen haben Spinnen ihre Netze gewebt.
Der alte Baum, der aus sieben Setzlingen zusammengewachsen sein soll, ist ein weithin bekannter Kraftort. Manche Einheimische kommen täglich unter sein Blätterdach. „Unser Verhältnis zu Bäumen ist ein ganz Besonderes“, sagt Margrit Hottenrott. „Seine Stärke ruht im unsichtbaren Wurzelwerk, ähnlich wie beim Menschen.“ Die Architektin, die auf dem Klostergelände lebt, führt im Rahmen von meditativen Gartenspaziergängen durch die Anlage.
Gäste suchen
ein spirituelles Erlebnis
„Drübeck ist ein Jahrtausende alter spiritueller Ort. Hier ist vieles spürbar, was man nicht aus Büchern lernen kann“, sagt Hottenrott. „Viele Gäste wollen nicht nur rationale Informationen, sondern auch emotional und spirituell angesprochen sein – und da eignet sich dieser Platz einfach fantastisch.“
Hottenrotts Arbeit folgt einer alten Tradition: Kloster Drübeck ist einer der ältesten Harzer Wirkungsorte von Frauen, von der Gründung im 10. Jahrhundert über die Epochen als Benediktinerinnenkloster und evangelisches Damenstift bis heute. In der Zeit um 1737 lebten dort nur noch fünf adlige Stiftsdamen und eine Äbtissin – alle mit einem eigenen Garten, den sie bewirtschaften konnten.
Die Symbolik beginnt bereits in der Nussbaumallee am Eingang, einem Fruchtbarkeitszeichen. Im Garten der Äbtissin haben knorrige Eiben eine meterhohe Kuppel gebildet – schon bei Naturvölkern galten sie als Ahnenbäume. „Viele Pflanzenarten wurden bewusst gewählt“, erklärt die Gartenführerin. Zum Beispiel die Königskerze als Symbol für das Zepter Christi oder die Rose in Verbindung mit Maria.
Hottenrott rät, intuitiv und mit Bauchgefühl in Details einzutauchen: „Jedes Mal, wenn uns etwas ,anspricht‘ – ein Ort, ein Baum, eine Pflanze – sollten wir uns Zeit nehmen, die Botschaft herauszuhören. Manche Menschen sind so aufgewachsen und können das, andere entdecken es plötzlich. Und viele haben eine Sehnsucht danach – vor allem seit den vergangenen beiden Jahren.“
Nicht nur die Bewohner des Klosters waren immer Frauen, auch die Entwürfe der Gartenanlagen aus dem 18. Jahrhundert stammten – ungewöhnlich für die damalige Zeit – von einer Planerin: Die Frau des einstigen Verwalters gestaltete sie mit großem Detailreichtum. Heute gehört die Anlage zum Netzwerk „Gartenträume“, das Sachsen-Anhalt vor gut 20 Jahren ins Leben rief.
Aus rund 1000 Gartendenkmalen wählte man 50 aus, die exemplarisch für die Gartenbaukunst des Landes stehen: Barockgärten, Schloss- und Klostergärten, weitläufige Landschaftsparks. Alleine im Harz liegen 14 der Gartenträume – und in den meisten sind Frauen engagiert: in Planung, Gestaltung, Sanierung und Bildung. Zum Beispiel im Lustgarten von Wernigerode mit seiner Orangerie, verwunschenen Wiesenwegen und Deutschlands nördlichstem zusammenhängenden Esskastanienhain.
„Zu DDR-Zeiten fanden hier Filmvorführungen und Arbeiterspiele statt, doch ein Großteil des Parks blieb verwildert“, sagt Lydia Seiler, die in blumigem Sommerkleid und Strohhut durch die Anlage führt. Für die Landschaftsarchitektin war die Sanierung ein Herzensprojekt – und wurde zu einer Reise in die eigene Vergangenheit: „Den schönsten Aussichtspunkt über die Stadt haben wir im Dickicht nur wiedergefunden, weil es von dort noch ein Foto mit mir als Kleinkind gab.“ Dazu kamen weitere Puzzlestücke wie historische Zeichnungen, Postkarten, Luftbilder und Zeitungsartikel.
Versorgung mit Gemüse ausschließlich aus den Gärten
Lydia Seiler lebt das Gartenthema. Im Bürgerpark der Stadt pflegt die 72-Jährige mehrere Themengärten, vom Villen- bis zum Metallgarten, daneben kümmert sie sich um den eigenen Garten. „Wir versorgen uns ausschließlich selbst mit Gemüse“, sagt sie. Mit ihrer Leidenschaft ist Seiler in Wernigerode nicht allein: Viele Bürger spenden regelmäßig für neue Bäume oder die Pflege des Bestandes. Das ist umso wichtiger angesichts der anstehenden Herausforderungen, sagt die Landschaftsarchitektin: „Nach drei Jahren Dürre mussten wir viele Bäume fällen oder in der Krone reduzieren.“
Inzwischen hat die Hitze des Tages sich in einem heftigen Sommergewitter entladen. Dampf steigt von den nassen Wiesen im Garten des zehn Kilometer entfernten Klosters Michaelstein auf. Der Regen hat die Blütenblätter der Rosen auf den Boden geschlagen, wo sie einen weißen Teppich bilden. Es duftet nach Lavendel und Currykraut, Thymian und Oregano.
Vor der Feldsteinmauer, die den Garten umgibt, wachsen Glaskraut und Pimpinelle, Alant und Lampionblumen. Farn wuchert aus einem alten Brunnen, Kräuterbeet reiht sich an Kräuterbeet: rechts Färberpflanzen für Tinte und Stoffe, daneben Duftkräuter wie Süßdolde oder Bohnenkraut. Und in der Mitte gruppieren sich Gewürzkräuter um den hochgeschossenen Fenchel.
„Hier wachsen fast nur historisch belegte Pflanzen“, sagt Sabine Volk. Die Gärtnerin machte die Planung von Klostergärten zum Thema ihrer Diplomarbeit als Ingenieurin für Landespflege. Vor mehr als 20 Jahren legte sie einen Gemüsegarten an, mit allem, was auf der mittelalterlichen Mönchstafel üblich war. „Ich habe die Zeitgrenze im Jahr 1492 gezogen“, sagt Volk. Keine Kartoffel, keine Tomate, keine Paprika.
Pflanzen streng
nach Klosterplan
Die 52-Jährige stützte sich bei ihrer Planung auf den Sankt Gallener Klosterplan, eine idealtypische Gartenaufteilung aus dem 9. Jahrhundert mit Kreuzhof, Kräuter-, Gemüse- und Obstgarten sowie präzisen Angaben zur Auswahl der Gewächse. Auch Karl der Große legte zu jener Epoche in der Krongüterverordnung „Capitulare de villis“ fest, welche Pflanzen im Karolingergebiet anzubauen seien.
„Nur das Thema Zauberkräuter hat in einer Klosteranlage eigentlich nichts zu suchen – aber sie gehören auch zum Harz“, sagt Sabine Volk. „Baldrian, Dost und Dill – kann die Hex‘ nicht, wie sie will“, lautete ein geflügeltes Wort im Mittelalter. „Für Besucher ist das Symbolische, die Kehrseite, immer sehr spannend“, so Volk. Sie wehrt sich jedoch dagegen, als Kräuterhexe angesprochen zu werden: „Ich finde Klosterfrau schöner.“
In den vergangenen Jahren hat sich Volks Arbeitsinhalt immer mehr in Richtung Unterricht verschoben. Sie führt Schulklassen durch den Garten, lädt zu Kräuterverkostungen ein und koordiniert Workshops zu Heilkräutern, Superfood oder „Zaubertränken“ für die Immunabwehr.
Der Autor reiste mit Unterstützung der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt.