Schweiz: Zahn um Zahn bis auf den Gipfel

Die Jungfraubahn ist ein Magnet für Besucher aus aller Welt. Oben angekommen, steigen sie dem ganzen Land aufs Dach.

Düsseldorf. 72 Wasserfälle stürzen rund um das beschauliche Örtchen Lauterbrunnen zu Tal. Die Geister, die Goethe einst über den Wassern singen ließ, übertönt heute das Rattern der Zahnradbahn auf die Kleine Scheidegg. Die Wengern-alpbahn, 1893 eröffnet, ist mit ihren 19 Kilometern bis heute die längste Zahnradbahn Europas.

Die Strecke auf die Kleine Scheidegg, auf der sich das berühmte Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau in 3-D wie auf einer Großleinwand präsentiert, ist nur der erste Teil des „Aufstiegs“ aufs Jungfraujoch, das sich werbewirksam „Top of Europe“ nennt.

Der höchstgelegene Bahnhof Europas auf 3454 Metern ist seit dem Jahr 1912 komfortabel mit einer Zahnradbahn zu erreichen.

Zu verdanken haben das die Inder und Chinesen, die Japaner und die Deutschen — kurz: alle Touristen, die einmal im Leben der Schweiz aufs Dach steigen wollen — der Beharrlichkeit des Industriellen Adolf Guyer-Zeller. Er hatte nach mehreren vergeblichen Anläufen anderer 1894 die Konzession zum Bau der Bahn und der Tunnel erhalten. Es war ein Jahrhundertbau, der in großer Höhe und dünner Luft bewältigt werden musste.

16 Jahre wurde an der 9,3 Kilometer langen Strecke gebaut, mehr als doppelt so lang wie veranschlagt; die Kosten stiegen von zehn auf 15 Millionen Franken. Die 300 Arbeiter übernachteten in Barackenlagern und werkelten in Schichten. Um sie bei Kräften (und Laune) zu halten, wurden sie ordentlich mit Lebensmitteln und auch mit Wein versorgt. Vier Tonnen Fleisch lagerten für den Jahresbedarf in Gletscherspalten.

Man bunkerte zwei Tonnen Kartoffeln und 800 Kilo Pasta für die Italiener. Einen Liter Wein gab es täglich für jeden. Rückschläge gab es trotzdem. 1908 explodierte das Dynamit-Lager, 150 Kisten mit 30 000 Kilogramm Dynamit flogen in die Luft. In Grindelwald zerplatzten alle Fenster, der Knall war bis nach Zürich zu hören, Opfer gab es gottlob keine. Auch Streiks frustrierter Arbeiter lähmten den Bau-Fortschritt.

Doch 1912 war es so weit: Zum ersten Mal fuhr die Bahn aufs Jungfraujoch, und damit begann auch der Wintertourismus in der Region. Viel sieht man nicht durch die Waggonfenster: Gut sieben Kilometer der Strecke liegen in Tunneln. Dafür gibt es Schaufenster ins Gletscherweiß. Zum Beispiel an der Station Eismeer, wo man auch in der höchst gelegenen Confiserie Europas eine Jungfrau-Praline naschen kann.

Zwischen den Tunnels öffnet sich der Blick auf die Jungfrau und auf Pisten, die aus vollen Rohren beschneit werden. In den Waggons läuft derweil ein Film über die Geschichte der Jungfraubahn. Die Ansage kommt in sieben Sprachen über die Lautsprecher. Das ist auch gut so, so kann sich die internationale Gästeschar vor dem Ausstieg warm anziehen.

Die Pudelmütze zum indischen Sari, die Pelzjacke zum japanischen Minirock — die Kombinationen sind so vielfältig wie die Besucher. Nur das Eine verbindet sie alle: die Lust am Fotografieren. Auf dem Plateau beißt ein Inder herzhaft in ein Stück frischen Schnee. „Icecream“, kreischt seine Freundin und drückt auf den Auslöser. Eine Großfamilie bewirft sich lachend gegenseitig mit Schnee, während der Fotograf verzweifelt versucht, die Szene einzufangen. Ein paar Mongolen posieren mit Victory-Zeichen vor der Schweizer Flagge.

Scheint draußen noch die Sonne, wird es im Eispalast so richtig frostig. Dafür sorgt seit ein paar Jahren eine Klimaanlage. Sie kühlt die eisigen Gewölbe 20 Meter unter dem Plateau, wenn sie von zu vielen Menschen aufgeheizt werden. Jeder Besucher, das hat man ausgerechnet, strahlt so viel Wärme ab wie eine Hundert-Watt-Glühbirne — nur bei den Asiaten ist das weniger. Bei 2000 Besuchern täglich tut Kühlung not. Sonst würden die Pinguine aus Eis, die glitzernden Zwerge und Bären schmelzen wie der Gletscher an der Sonne.

Die blank polierten Gewölbe der Gänge und die Decken der Hallen müssen auch ständig nachgehauen werden. Dafür ist der Eismeister da. Er muss verhindern, dass der Eispalast zusammen mit dem Jungfraugletscher ins Tal fließt — Richtung Norden. Denn das Jungfraujoch ist auch eine Wasserscheide.

Das Schmelzwasser des Aletschgletschers etwa fließt ins Mittelmeer. Von der Endstation der Jungfraubahn, die sich auf 3454 Metern Höhe in der Sphinx befindet, einem kleinen, spitzen Gipfel, führt der schnellste Lift der Schweiz 108 Meter hinauf auf eine Aussichtsplattform, die im Jahr 1996 für 30 Millionen Franken fertiggestellt wurde.

Das Panorama der umstehenden schneeweißen Giganten ist grandios, aber die vorwitzigen Bergdohlen stehlen den Gipfeln ganz schön die Schau.

Ihr Geflatter entzückt die Besucher aus Asien und dem Orient mindestens ebenso sehr wie der höchst gelegene Uhrenladen der Welt, in dem man sich mit einer Gravur bestätigen lassen kann, dass man auf dem „Top of Europe“ war. Ganz oben.