Unterwegs am Lake Superior: Der See ist der Boss
Bayfield (dpa/tmn) - Wenn in den USA vom „Boss“ die Rede ist, meinen viele Menschen ihren Arbeitgeber, andere sprechen von Bruce Springsteen. Im Norden des Mittleren Westens ist ein anderer gemeint: der Lake Superior.
Reisende sollten ihm mit Respekt begegnen.
Kurz vor der Teufelsinsel muss die „Island Princess“ wenden. „Sorry, Leute“, knarzt die Stimme von Kapitän Brian Edelmann aus dem Lautsprecher, „aber der Wind ist zu stark und die Dünung zu hoch.“ Brian will nichts riskieren auf seinem Ausflugsschiff - nicht auf diesem See.
Im kleinen Ort Bayfield ist er aufgebrochen, um seine Passagiere durch die Apostle Islands zu schippern, eine Inselgruppe vor der Südküste des Lake Superior. Die Tour soll bis nach Devil's Island führen, zum nördlichsten Punkt auf der Karte des US-Bundesstaates Wisconsin - für die nach Superlativen verrückten Amerikaner ein lohnendes Ziel. Aber heute erscheint das Risiko zu groß. „Sorry nochmals“, entschuldigt sich der Käpt'n. „Aber so ist hier eben - der See ist der Boss.“
Lake Superior, Oberer See: Was für eine Untertreibung steckt in diesem Namen. Kein See - ein richtiges Meer ist das! Wer an seinen Ufern steht, blickt überall auf eine endlos erscheinende Weite hinaus. Es sind die größten Süßwasservorräte der Welt. Eine wuchtige Welle nach der anderen rauscht heran, entlang der 4385 Kilometer langen Küstenlinie gibt es vor allem eines: wilde Natur.
Metropolen? Fehlanzeige. Und zum Baden ist das Wasser zu kalt. Dennoch lohnt es sich, in den Norden des Mittleren Westens aufzubrechen, wo Schwarzbären durch die Wälder streifen und Hinweisschilder auf Schneemobil-Routen die Sommergäste verwirren. Hier öffnet sich dem Besucher ein typisches Kleinstadt-Amerika, für das die Sorgen der Welt und auch nur die Washingtons weit entfernt scheinen. Besucher können auf die Suche nach Schiffswracks gehen oder stundenlang durch Naturparks wandern, ohne anderen Menschen zu begegnen. Und immer wieder hören sie den Satz: Der See ist der Boss.
Ein guter Ausgangspunkt für die Erkundung ist Duluth in Minnesota. Hier endet der rund 3700 Kilometer lange Sankt-Lorenz-Seeweg, der die Weizenfarmen und Rohstofflager des Mittleren Westens mit dem Atlantik und damit den Weltmärkten verbindet. Die Stadt war einst reich, aber als Industriestandort verlor sie in den 1960er Jahren an Bedeutung. Nun hat sie sich als Touristenziel neu erfunden.
Attraktion Nummer eins ist die gewaltige Stahlkonstruktion der Aerial Lift Bridge aus dem Jahr 1905: Bis zu 6000 Mal pro Jahr hebt sie eine Straßenfahrbahn um 40 Meter an, um Jachten und Ausflugsboote in den Hafen zu lassen.
Bei einer Fahrt in den Osten von Duluth liegt Minnesota bald im Rückspiegel - und der Lake Superior nur selten vor der Nase. Denn der Highway 2 verläuft nur an wenigen Stellen in Ufernähe. Wer mehr von der Südküste erleben will, muss Abstecher machen - zum Beispiel nach Bayfield.
Der Ort ist das Tor zu den Apostle Islands. Wer wegen des Namens auf 12 Inseln tippt, liegt falsch - es sind sogar 22. Die meisten bilden heute einen Nationalpark, nur Madeline Island gehört nicht dazu. „Es wäre zu teuer gewesen, dort das ganze private Land aufzukaufen und die Menschen umzusiedeln“, erzählt Kapitän Brian Edelmann auf der „Island Princess“-Tour.
Etwa 250 Einwohner leben permanent auf Madeline Island, im Sommer steigt die Zahl durch die vielen Ferienhausbesitzer auf bis zu 3000. Angezogen werden sie von dem entspannten Lebensgefühl - fast alle Menschen lassen abends nicht nur die Autos offen, sondern sogar den Zündschlüssel stecken. Touristen können sich Fahrräder ausleihen - und bekommen an einem halben Tag mehr Wildwechsel zu sehen, als sie es als Autofahrer in Deutschland in einem ganzen Jahr erleben.
Auch Schwarzbären leben auf Madeline, wenn auch nicht so viele wie auf der Nachbarinsel Stockton Island. „Es gibt dort etwa 40, das ist die größte Populationsdichte in Nordamerika“, erzählt Käpt'n Brian, als er noch guten Mutes ist, bis Devil's Island zu kommen.
Hunderten von Seeleuten ist der Lake Superior zum Verhängnis geworden, die Südküste gilt als „Schiffsfriedhof“. Wer sich ein Bild davon machen möchte, kann in Munising auf der Upper Peninsula in Michigan eine Wracktour mit einem Glasbodenboot unternehmen.
„Käpt'n Dano“ und Pepper VanLandschoot steuern es unter anderem zu den Überresten der „Bermuda“, einem 1870 gesunkenen Eisenerzfrachter, der zum Teil nur drei Meter unterhalb der Wasseroberfläche liegt. An manchen Tagen sind Taucher im Wrack zu beobachten. „Das ist hier erlaubt“, erzählt Pepper. „Nur mitnehmen darfst Du nichts. Für jedes Fundstück, mit dem Du erwischt wirst, zahlst Du sonst 5000 Dollar.“
Das Boot fährt weiter zu einem Holzschiff, das hier irgendwann zwischen 1770 und dem späten 19. Jahrhundert auseinanderbrach. Durch den Glasboden sind am Seegrund lange Eisenteile zu erkennen, aber nichts, was Rückschlüsse auf den Schiffsnamen geben könnte. „Es bleibt ein Geheimnis“, sagt Pepper mit dunkler Stimme. „Es ist eines jener Schiffe, die einen Hafen verließen, aber nie am Ziel ankamen.“ Pepper VanLandschoot legt eine kurze Pause ein, als wollte er noch etwas hinzufügen. Doch dann sagt er ihn nicht, jenen Satz vom See, der hier der Boss ist. Aber das wissen seine Gäste ja ohnehin schon.