USA USA: Auf Rockys Spuren in Philadelphia

Ein eisiger Wind weht über die 72 Stufen vor dem Philadelphia Museum of Modern Art. Nicht allzu viele Besucher durchschreiten an diesem Vormittag die majestätischen Säulen des Kunsthauses. Die „berühmteste Treppe Amerikas“, so der Spitzname in Philadelphia, ist eine Attraktion für sich.

An der Rocky-Statue posieren vor allem Touristen, die sich auf Spurensuche der berühmten Filmfigur begeben.

Foto: Sven Schneider

Die bezwungen werden will, und zwar im Laufschritt.

Auch Emilou Richardson aus Boston müht sich ab. Oben angekommen, reißt sie die Arme hoch, dreht sich um, blickt über den Benjamin Franklin Parkway bis zur zwei Kilometer entfernten City Hall und brüllt: „Yo, Philly, I did it!“ Sie hat es geschafft. Dass sie das viktorianische Rathaus  aber als Belohnung nicht sehen kann, weil es im Dunst versinkt, stört sie nicht. „Das muss doch so sein“, sagt die Mittdreißigerin, die für ein Wochenende in die Geburtsstadt der USA gekommen ist. „Das ist Rocky-Wetter“, sagt sie und geht die Stufen zur berühmten Rocky-Statue herab, um noch schnell ein Selfie mit dem drei Meter hohen Bronze-Koloss zu machen.

Rocky, immer wieder Rocky: Im gleichnamigen Boxer-Drama von 1976 rannte Sylvester Stallone bei identischem Klima die Stufen hinauf. Es war nicht nur die Rolle, die seinen Durchbruch bedeutete.

Alle acht bislang erschienenen Filme des Franchise wurden in der Stadt gedreht, jährlich kommen Zehntausende, um zu den zahlreichen Locations zu pilgern. Sie essen Pasta im Victor´s Café in der 1303 Dickinson Street und lassen sich von den Kellnern zwischen den Gängen mit Opernarien unterhalten – für mehrere Filme der Reihe doubelte der Gourmet-Tempel Rockys Restaurant „Adrian´s“. Günstiger wäre ein Philly Cheese Steak bei Pat´s King of Steaks in der 1237 East Passyunk Avenue in South Philadelphia, wo auch Stallone einst diesen kulinarischen Schlager  vertilgte –  eine Platte auf dem Bürgersteig markiert den Punkt, auf dem der Star dabei stand.

Drehorte liegen in der Nähe
von  Sehenswürdigkeiten

Oder sie shoppen im Italien Market rund um die 9th South Street, der durch den ikonischen Trainingslauf des Boxers weltberühmt wurde. Der Markt gilt als der älteste noch existierende Open Air Markt der USA. Andere genießen am Schuylkill River Ausblicke auf die Skyline der Stadt. Mehrere Trainingssequenzen wurden an dem innerstädtischen Fluss gedreht.

Vorteil für Touristen: Viele Drehorte sind nahe bedeutender Sehenswürdigkeiten, von denen eine der ältesten Städte Amerikas nicht wenige hat. Das historische Zentrum der Old City mit Liberty Bell und Benjamin Franklins Haus sind nur ein paar Blocks von Locations wie dem Rittenhouse Square oder der Liberty Hall entfernt. Es ist das schöne und schillernde Philadelphia, das eine eindrucksvolle Visitenkarte abgibt. Doch jede Karte hat auch eine unschöne Rückseite. Mit den Rocky-Drehorten ist das genauso. Schließlich war vor allem der erste Film eine treffende Milieu-Studie mit Personen aus der Arbeiterklasse, und die wohnen nicht dort, wo es glänzt. Ihre Heimat sind die dunklen und ärmlichen Ecken – und Stallone wusste das. Deswegen sollte sein Italo-Amerikaner Balboa auch in South Philadelphia leben, seit alters her Wohnstätte italienischer Einwanderer.

Verlassene Häuser
und brennende Mülltonnen

Doch der heutige Mittelklasse-Stadtteil war schon 1976 zu gut in Schuss, den passenden schäbigen Look fand die Crew im Norden der Stadt, in Kensington. Ein Viertel mit verlassenen Häusern, brennenden Mülltonnen im Winter und billigen Kneipen. Wo es heute noch viel rauer zugeht als zu Zeiten des ersten Films. Und wo die bei den Fans beliebtesten Drehorte verborgen liegen. „Da wollen sie alle hin“, sagt Mike Kunda, der seit acht Jahren mit seinem Honda Odyssey Movie-Nerds für eine Tour zu den Rocky-Sets durch die Stadt kurvt.

Er sieht aus wie ein gealterter Stallone, spricht und bewegt sich wie Rocky und kennt allerlei kleine Insider-Geschichten zu den Filmen, die er seinen Kunden mit hängender Unterlippe und Fedora-Hut näher bringt. Kunda kann die Faszination um die Filme nachvollziehen. „Jeder denkt, bei Rocky gehe es ums Gewinnen“, nuschelt er, dabei stehe das überhaupt nicht im Vordergrund. Es gehe vielmehr „darum, nicht am Boden zu bleiben, wenn das Leben Dich schlägt, sondern wieder aufzustehen.“

Vielleicht mag er die Filme so sehr, weil er der Figur nicht nur äußerlich ähnelt. Früher war Kunda das Paradebeispiel eines Verlierers. 26 Jobs habe er in den vergangenen Jahren verloren. 2005 kam es zu einer Zufallsbegegnung mit Stallone, der ihm die Idee vermittelte, aufgrund seiner Ähnlichkeit als Rocky-Tourguide zu arbeiten. „Er meinte, die Leute werden das lieben“, so Kunda.

Womit der Mime Recht hatte. Seine Touren sind nach eigener Aussage auf Monate ausgebucht. Wobei er in der Regel nur vormittags zu seinen Exkursionen aufbricht, vor allem, wenn seine Kunden nach Kensington wollen. „Nach Einbruch der Dunkelheit will ich da raus sein.“ Als Kunda das SUV durchs angrenzende Fishtown steuert, wird auch klar, warum. Auf Höhe der Lehigh Avenue rahmen verfallene und verlassene Häuser die Straße, Obdachlose hausen in Zelten, schwangere Prostituierte warten am Straßenrand auf Kundschaft. Ein Ort ohne Zukunft.

Turnschuhe ermordeter Menschen hängen am Kabel

In der East Tusculum Street wartet das erste Highlight für Rocky-Fans, doch sie brauchen starke Nerven, denn der Wiedererkennungswert ist gering. Dort, in Hausnummer 1818, hatte der Boxer im Film seine Wohnung. Doch der Putz ist schon vor langer Zeit abgebröckelt und Müll säumt den Gehweg. Über der Straße hängen an einem Stromkabel mehrere Paar Turnschuhe, „von hier ermordeten Menschen“, wie Kunda weiß. Aussteigen, ein paar Fotos machen und schnell weg.

Zehn Blocks südwestlich an der North Front Street fühlt man sich als Besucher schon sicherer und wohler, doch die Abrissbirne ist auch dort Realität. Erst 2017 musste das Haus Nr. 2146 mit Adrians Tierladen dran glauben, das viele Jahre leerstehende Gebäude wurde dem Erdboden gleich gemacht. „Sehr schade, denn es war die einzige Location, die tatsächlich war, was sie auch im Film verkörperte“, mäkelt Mike Kunda.

Im Gegensatz zum gegenüberliegenden Eckgebäude, das jeder Rocky-Fan sehen will: Im Film war dort die Trainingshalle „Mighty Mick´s Boxing Gym“ – zwar wurde in Wirklichkeit nur die Fassade genutzt, aber für Fans ist sie heilig. Doch auch dieses seit Jahren leerstehende Gebäude ist vom Abriss bedroht.

Sylvester Stallone könnte
sein kulturelles Erbe retten

Vielleicht gibt es Hoffnung, wie Kunda erfahren haben will: Erst im April 2018 sei Sylvester Stallone dort gewesen und habe dem Besitzer des Hauses ein Angebot gemacht, um es zu kaufen und ein Rocky-Museum draus zu machen.  Die Chancen stünden nicht schlecht, schließlich sorge sich Sylvester Stallone auf seine alten Tage um sein kulturelles Erbe, und da sind die Drehorte seines ersten großen Erfolges ein wichtiges Element. Das Teure daran sei jedoch nicht der Kauf des Gebäudes, sondern dessen Renovierung.

Aber wer weiß: Vielleicht springt  auch die Stadt Philadelphia ein, beteiligt sich an den Kosten – und ehrt somit ihren bekanntesten Sohn, der niemals lebte. Wie es Touristen schon seit Jahrzehnten tun.

Der Autor reiste mit Unterstützung vom Fremdenverkehrsamt Philadelphia.