Kreuzfahrt - das Kirchentagsblog Kirchentag: Christliches Netz der Gesprächsfäden

Der Kirchentag versucht, die Gesellschaft sprachfähig zu halten. Dafür wird er oft belächelt. Aber eine sinnvollere Alternative gibt es nicht.

Ahmad Mohammad al-Tayyeb (l) und Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) am Freitag in Berlin am Evangelischen Kirchentag.

Foto: Maurizio Gambarini

Berlin. Und plötzlich ist da nur noch Schweigen. In der Halle 20 auf dem Berliner Messegelände, in den Nachbarhallen, in der ganzen Stadt. Es ist Freitagmittag um 12 Uhr und für eine Minute hält der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag bei all seinen Veranstaltungen inne. Eine Minute für 10.000 Tote. Gedenken an die Menschen, die in den vergangenen drei Jahren auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen sind.

Manchmal ist es wichtig, einfach still zu sein und die Gedanken zu sammeln. Aber dann wird wieder geredet. Und geredet. Und geredet. Eine Millionenstadt wie Berlin ist ein Puzzle. Und fünf Tage Kirchentag mit 2500 Veranstaltungen sind auch ein Puzzle. Aber wenn es überhaupt einen Orientierungsfaden gibt, um all die Teile halbwegs sinnvoll zusammenzusetzen, dann ist es der Gesprächsfaden. Er soll um Himmelswillen nicht abreißen, weil alles, was dann käme, die schlechtere Alternative wäre. Der Kirchentag versucht, die Gesellschaft sprachfähig zu halten - auch da, wo es weh tut.

Auf der Treppe zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz stehen noch immer Hunderte Kerzenlichter. Sie erinnern an die zwölf Toten und über 50 Verletzten des Lkw-Anschlags vom vergangenen Dezember. Ein ähnliches Zeichen der Anteilnahme findet sich seit Anfang der Woche in der Wilhelmstraße nahe dem Brandenburger Tor vor der britischen Botschaft, Reaktion auf die 22 Toten von Manchester. Beide Terrorattacken hatten einen islamistischen Hintergrund. Und beide provisorischen Gedenkstätten kann man auch als Kristallisationspunkte verstehen, an denen sich entscheidet, ob eine Gesellschaft auseinanderfällt oder nicht.

Als Thomas de Maizière (CDU) an diesem Freitagvormittag in der Halle 20 auf den ägyptischen Großscheich Ahmad Mohammad al-Tayyeb trifft, um über Toleranz und friedliches Zusammenleben zu diskutieren, wird dem deutschen Innenminister zwischendurch ein Zettel gereicht. Die Nachricht vom Angriff auf einen Bus mit koptischen Christen südlich von Kairo - wieder 23 Tote. Vielleicht ist nicht der Besuch Barack Obamas die größte Sensation des Kirchentags, sondern die Bereitschaft al-Tayyebs, des geistlichen Oberhaupts der über tausend Jahre alten Azhar-Universität in Kairo und der höchsten Autorität des sunnitischen Islam, sich den Anfragen an seine Religion zu stellen. Er sei gekommen, sagt er, um alle Religionsführer aufzurufen, "den Terror als unseren gemeinsamen Feind anzusehen".

al-Tayyeb (71) betont die Offenheit des Islam gegenüber anderen Religionen. Er erinnert daran, dass die meisten Terroropfer selbst Muslime sind. Vor allem aber bringt er Projekte mit, die dazu beitragen sollen, das Misstrauen zwischen Orient und Okzident zu mindern. So will die Azhar-Universität für in Deutschland tätige Imame eine Intensivausbildung anbieten, die sich insbesondere der Auslegung jener Textstellen im Koran widmet, die Islamisten als Vorwand für ihre Terrorattacken dienen. Außerdem hofft al-Tayyeb, dass ein Internetportal der Universität in elf Sprachen auch in Deutschland Fuß fasst. Es setzt sich mit terroristischen Online-Botschaften auseinander, widerlegt sie und soll vor allem junge Muslime erreichen.

"Wir möchten den Ruf des Islam retten", sagt der Großscheich unter dem Applaus der Kirchentagsbesucher und zur Freude von de Maizière, der den Kontakt nach Kairo schon seit einem Jahr pflegt. Der Innenminister stellt in Aussicht, dass die Azhar-Universität in Kairo und die Humboldt-Universität in Berlin zusammenarbeiten werden, um Imame auch in der deutschen Hauptstadt ausbilden zu können.

In seinem Vortrag hatte de Maizière zuvor die Toleranz gegen die Beliebigkeit abgegrenzt. Religiöse Toleranz zwischen Protestanten und Katholiken sei im Land der Reformation erst mit der Einsicht möglich geworden, dass die Reformation nicht mehr rückgängig zu machen sei. Gleiches gelte heute für die Globalisierung. Auch sie sei nicht mehr rückgängig zu machen - mit drei Konsequenzen für die Religionen: "Sie können sich nicht mehr aus dem Weg gehen. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung der Religionen, unser Zusammenleben friedlich zu organisieren. Und Toleranz braucht den sachlichen, respektvollen Streit."

Auch an anderer Stelle zeigt sich auf dem Kirchentag, wie die Religionen in diesem Findungsprozess versuchen, aus der Rolle der Getriebenen herauszukommen. Als der Münsteraner Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide tags zuvor davon spricht, dass die Grenze nicht zwischen Muslimen und Christen, sondern zwischen menschenfeindlicher und menschenfreundlicher Auslegung von Religionen verlaufe, sitzt Pastor Ephraim Kadala mit auf der Bühne. Seine christliche EYN-Kirche in Nigeria leidet besonders unter dem Boko-Haram-Terror. Seiner Bereitschaft, weiter am Dialog mit Imamen vor Ort zu arbeiten, tut das keinen Abbruch. Islamstudenten sollen künftig auch die Möglichkeit erhalten, an der Universität Münster zu studieren.

Wie viel Geduld dieser Brückenbau aber erfordert, zeigt sich im Zentrum Juden & Christen. Diese beiden Religionen sind sich durch die gemeinsamen Schriften wesentlich näher, auch der Dialog währt schon Jahrzehnte. Dass Jesus selbst Jude war, ist längst eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Doch was daraus folgt, sorgt immer noch für Verletzungen und Diskussionen, die sich im Kreise drehen.

"Die Judas-Geschichte war die Basis für 2000 Jahre Antisemitismus", sagt der israelische Schriftsteller und Friedenspreisträger Amos Oz. "Alle Juden wurden zu Judas." Dass der deutsche Maler Max Liebermann 1884 sein Bild "Der zwölfjährige Jesus im Tempel" nach heftiger Kritik noch einmal übermalte und aus dem erkennbaren Judenjungen ein stupsnasiges Kind mit goldenem Haar machte, ist eben nicht nur eine Geschichte aus grauer Vorzeit. Der Vorfall wirft bis heute die Frage auf, wie sehr sich das Christentum wirklich zu seinen jüdischen Wurzeln bekennt.

Die Neue Synagoge Berlin, in der NS-Zeit zerstört und heute das Centrum Judaicum, liegt an der Oranienburger Straße. Von dort sind es nur wenige Minuten bis zur evangelischen Sophienkirche. Auch sie hat eine hohe Symbolkraft: 1964 predigte hier Martin Luther King anlässlich seines überraschenden Besuchs in Ost-Berlin. Während der Wendezeit war sie Anlaufstation für Oppositionelle. Jetzt sitzt hier Anette Schultner in der Diskussionsrunde, Vorsitzende der Bundesvereinigung "Christen in der AfD". Womöglich ist dieser Gesprächsfaden die größte Selbstzumutung des diesjährigen Kirchentags.

Aber auch er hält. Wer die paar Zwischenrufe und das zur Übertönung gesungene Lied "We shall overcome" schon als heftige Proteste deklariert, hat die Kirchentagstumulte früherer Jahrzehnte längst vergessen. Während vor dem Brandenburger Tor der frühere US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über das demokratische Engagement junger Menschen für Frieden und Verständigung diskutieren und über die weltweite Flüchtlingskrise, vertritt Schultner diejenigen, die noch nicht akzeptiert haben, dass die Globalisierung nicht mehr zurückzudrehen ist. Auch sie spricht davon, dass jeder Mensch die gleiche Würde habe, gottgewollt und wertvoll sei. Aber das christliche Gebot der Nächstenliebe wird bei ihr zur Liebe dessen, "was uns nahe ist".

Von der Münchener Publizistin Liane Bednarz muss ihre Partei sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen: "Wenn ein Schächtungsverbot für Deutschland gefordert wird und auch ein Importverbot für geschächtetes Fleisch, dann bedeutet das faktisch, dass Juden und Muslime in Deutschland nicht mehr leben können, weil sie ihre religiösen Traditionen nicht ausleben können." Und Berlins Bischof Markus Dröge sagt, ihn gehe es nicht darum, AfD-Mitgliedern das Christsein abzusprechen. "Aber es geht um ein glaubwürdiges Christentum. Und es ist nicht glaubwürdig, sich als Christ der AfD zu engagieren, weil man dort als Feigenblatt missbraucht wird."

Die Gesprächsfäden des Kirchentags zu anderen Konfessionen, zu Juden und Muslimen, zur internationalen und deutschen Politik bis hin zur AfD, sind unterschiedlich stark. Manche sind zum Zerreißen gespannt. Aber es gibt kein zweites Forum dieser Größe, das sie in ähnlich öffentlicher Weise zusammenhält. Auch wenn diese Such- und Findungsprozesse manchen nicht schnell genug gehen.

"Wir dürfen uns nicht an dieses tausendfache Sterben gewöhnen", sagt Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und mitverantwortlich für das Fluchtgedenken. "Wir beklagen nicht die Opfer einer Naturkatastrophe, sondern die Opfer einer Politik, die auf Abschreckung und Abschottung setzt. Das ist mit dem christlichen Verständnis von Nächstenliebe nicht vereinbar."