Meinung Gegenentwurf zu den Krakeelern
Ja, es geht noch. Man kann noch verschiedener Meinungen sein, ohne sich niederzubrüllen. Selbst Gespräche über kritische Themen sind möglich mit Argument und Gegenargument, Zuhören und Nachdenken.
Vielleicht stärker als je zuvor profiliert sich der Evangelische Kirchentag in diesen Tagen als Gegenentwurf zu einer von Krakeelern und Demagogen zersetzten Diskussionskultur.
Dieser Gegenentwurf basiert vor allem auf der Bereitschaft des Publikums, eigene (Vor-)Urteile zu überwinden. Innenminister Thomas de Maizière beispielsweise ist zwar seit Jahren Mitglied des Kirchentagspräsidiums, hat aber mit seiner Kritik am Kirchenasyl und seiner jüngsten Leitkultur-Debatte in Kirchenkreisen auch für viel Unmut gesorgt. Vom ägyptischen Großscheich Ahmad Mohammad al-Tayyeb sind gar üble antisemitische Äußerungen bekannt. Trotzdem war das Aufeinandertreffen der beiden einer der Höhepunkte der ersten drei Kirchentagstage.
"Die einzige Alternative zur Kultur der Begegnung ist die Unkultur des Streits", hatte Papst Franziskus gesagt, als er im April al-Tayyebs Gast in Kairo war. Diese Haltung setzt der Kirchentag fort. Innenminister de Maizière hat dabei in einer klugen Rede den Streit durchaus als notwendigen Bestandteil von Begegnung und Toleranz benannt - aber nur in seiner sachlichen, respektvollen Variante.
Man kann al-Tayyebs Berliner Satz misstrauen, der Islam blicke "auf Christen und Juden mit Freundlichkeit". Man kann Schwierigkeiten haben, de Maizières auf Kirchentagen demonstrierte Nachdenklichkeit mit seinen teils markigen Politikersprüchen überein zu bekommen. Aber dem Kirchentag gelingt es immer wieder, mehr aus seinen Gästen hervorzuholen als das Erwartbare und so überhaupt die Basis zu legen für Formen der Verständigung. Allein dafür ist er unverzichtbar.