Landtagswahl NRW Piraten wollen noch mal kämpfen — mit Video

Michele Marsching, Spitzenkandidat der NRW-Piraten, zu Bürgerbeteiligung, Grundeinkommen und Reformbedarf im Landtag.

Foto: Sergej Lepke

Herr Marsching, die Umfragen sehen nicht gut aus für die Piraten. Haben Sie im Landtag schon die Koffer gepackt?

Michele Marsching: Natürlich nicht. Der erste Umzugskarton, der aus unseren Fraktionsräumen in den Gang gestellt wird, wird angezündet. Nein, im Ernst, ich glaube daran, dass wir wieder in den Landtag kommen. Für die Themen, für die wir stehen, sehe ich keine Alternative.

Aber die Umfragen sagen etwas anderes.

Marsching: Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wir kämpfen, wir stehen auf der Straße, streiten für unsere Themen.

Nennen Sie uns drei?

Marsching: Bürgerbeteiligung, Digitalisierung und Transparenz.

Sie wollen die Bürger mehr am politischen Prozess teilhaben lassen.

Marsching: Ja, die Hürden sind zu hoch, wir brauchen mehr direkte Demokratie. Über basisdemokratische Entscheide kann mit den Mitteln des Internets die Meinung der Bürger oder der Parteibasis in die Parlamente gebracht werden. Wer die besseren Argumente hat, soll sich durchsetzen.

Aber gewinnt bei direkter Demokratie wirklich der mit den besseren Argumenten?

Marsching: Wenn das bislang bei Bürgerentscheiden oder Volksinitiativen nicht so ist, liegt das daran, dass ein Thema populistisch so aufgebauscht werden muss, um überhaupt Interesse zu wecken. Wenn man dagegen über viele Themen abstimmen lässt, braucht man nicht mehr diese Skandalisierung. Natürlich muss man dann mehr in die politische Bildung stecken.

Die Piraten standen als Experten für Digitalisierung. Das Thema haben längst auch andere besetzt.

Marsching: Das ist natürlich weiter unser Thema. Es geht darum, die Digitalisierung politisch zu begleiten: Was macht das mit der Arbeitswelt und der Gesellschaft. Und wie wirkt sich das aufs Sozialsystem aus?

Sie meinen, wenn die Digitalisierung immer mehr Arbeitsplätze verschwinden lässt.

Marsching: Ja, wenn nur noch die Hälfte der Menschen Arbeit hat — wer zahlt denn dann für das Sozialsystem? Dann müssen wir uns Gedanken über eine Maschinensteuer und ein bedingungsloses Grundeinkommen machen.

Sprechen Sie weiterhin die jüngeren Wähler an?

Marsching: Wir sprechen die Leute an, die sich Gedanken machen: Was passiert mit mir in 20 Jahren? Was passiert mit der Gesellschaft? Wir sprechen Leute an, die sich über Altersarmut Gedanken machen, über ihre Kinder und wie es in der Schule aussieht. Die Digitalisierung wirkt sich doch in unser aller Leben aus. Damit muss sich jeder auseinandersetzen.

Geht es den Piraten da mehr um die Chancen als um die Gefahren?

Marsching: Wir werden alle von der Digitalisierung profitieren. Die Gesellschaft muss sich aber darauf einstellen. Der Pflegeroboter kann Menschen umbetten, aber keinen Trost spenden. Dafür brauchen wir weiter Menschen. Das heißt: Soziale Berufe werden wichtiger. Die Chance liegt darin, dass wir ein selbstbestimmteres Leben mit mehr Zeit für das haben, woran wir Spaß haben. Das „Ich muss nicht mehr arbeiten gehen“ ist eine Chance, das zu tun, was meiner Neigung entspricht. Da wird es eine radikale Umstellung der Gesellschaft geben.

Weil dieses zunehmende Nicht-mehr-Arbeiten ja auch finanziert werden will.

Marsching: Solche gesellschaftlichen Umwälzungen müssen politisch gestaltet werden. Dafür wird man das bedingungslose Grundeinkommen brauchen. Das wird nicht anders funktionieren. Historisch hatten wir die Arbeitsplatzverlegung von der Landwirtschaft in die Fabriken. Und danach in die Dienstleistung. Wenn all das von Maschinen erledigt wird, gibt es halt nichts mehr. Wenn die Menschen nicht mehr produzieren, sondern nur noch Konsumenten sind, muss man sich überlegen, wie die Gesellschaft aussieht. Jedenfalls lässt sich die Entwicklung nicht aufhalten. Bremsen hilft da nicht, umso wichtiger ist es, die Zukunft aktiv zu gestalten. Und das heißt eben auch: über das Sozialsystem und eben über ein Grundeinkommen zu reden.

Von der Zukunft in die Gegenwart. Wenn Sie wieder in den Landtag kämen — was würden Sie anders machen?

Marsching: Ich hätte nicht mehr so viel Vertrauen in die anderen Fraktionen. Die ziehen da ihren Schuh durch, egal, ob wir Piraten da sitzen oder nicht. Wir möchten eine namentliche Abstimmung bei allen Themen. Das geht auf elektronischem Weg ohne großen Aufwand. So könnte jeder Wähler immer sehen, wie der von ihm gewählte Abgeordnete abgestimmt hat. Das wäre Transparenz im besten Sinne. Wir wollen, dass die Leute draußen sehen, was drinnen im Landtag passiert. Und da darf es zum Beispiel auch nicht sein, dass einer von uns Piraten etwas auf dem T-Shirt stehen hat und im Livestream der Landtagsdebatte ist das dann nicht zu sehen, weil die Kamera nur noch auf das Gesicht gerichtet ist. Über solch eine Art von Zensur kann ich mich aufregen.

Wie sehen Sie den Politikbetrieb heute, nach fünf Jahren Erfahrung im Landtag?

Marsching: Die Sprache der Politiker ist zu abgehoben. Wir leben auch im Landtag zu sehr in unserer eigenen Welt. Wenn da zum Beispiel über Kinderarmut in Essen geredet wird, dann wissen viele gar nicht, wovon sie reden. Ich habe mir die Stadtteile und Schulgebäude dort tatsächlich angesehen. Da merkt man schnell, wenn von Politikern zu Unrecht abgewiegelt wird.