Deutsches Team Toni Schumacher: "Das war ja ein Herzinfarktspiel"

Ex-Nationaltorhüter Toni Schumacher über legendäre Fußballduelle gegen Frankreich, den Zusammenprall mit Battiston, die Stärken von Manuel Neuer und seine Tricks beim Elfmeterschießen.

Toni Schumacher springt während des WM-Halfinalspiels am 8. Juli 1982 im Sanchez-Pizjuan-Stadion in Sevilla aus vollem Lauf den französischen Spieler Patrick Battiston (3) an. Battiston verlor bei diesem Foul mehrere Zähne und erlitt eine Gehirnerschütterung.

Harald „Toni“ Schumacher war in den 80er Jahren einer der besten Torhüter der Welt, von 1972 bis 1987 spielte er für den 1. FC Köln in der Bundesliga. Mit der Nationalmannschaft wurde er 1982 und 1986 jeweils Vize-Weltmeister. In beiden Turnieren siegte die DFB-Elf im Halbfinale gegen Frankreich. In die Schlagzeilen geriet der „Tünn“, wie er in Köln heißt, 1982 nach einem Foul am Franzosen Patrick Battiston, der sich bei diesem Zusammenprall schlimm verletzte. Im Interview spricht der 62-jährige Vize-Präsident des 1. FC Köln über das EM-Halbfinale und darüber, wie er früher Elfmeter gehalten hat.

Was haben Sie empfunden, als Jonas Hector gegen Italien zum Elfmeter angelaufen ist?

Toni Schumacher: Ich weiß, dass Jonas Hector eine extrem kalte Schnauze ist und ein sehr ruhiger Typ. Daher habe ich spontan gedacht: Für diese Art von Verantwortung ist er genau der Richtige. Da wusste ich allerdings noch nicht, dass er den letzten Elfmeter in der Jugend geschossen hatte. Man muss schon sagen: Hut ab, dass er sich gestellt hat. Nachdem vor ihm so viele verschossen hatten, war der Druck schon immens.

Waren Sie vor dem Fernseher besorgt, dass Hector verschießen könnte?

Schumacher: Nein, überhaupt nicht. So habe ich aber auch als Spieler nie ein Elfmeterschießen erlebt. Ich bin da immer reingegangen und habe gesagt: Heute kannst du der Held sein. Du musst nur zwei halten. Ich habe nie daran gedacht, dass ich verlieren könnte. Nie.

Manuel Neuer hat im Elfmeterschießen gegen Italien getan, was Sie immer empfohlen haben: Zwei gehalten.

Schumacher: Der Gigi Buffon hätte sicherlich auch gern mehr Chancen gehabt, welche zu halten. Aber so viele Elfmeter sind ja nicht aufs Tor gekommen.

Die deutschen Spieler wollten ihn nicht warmschießen.

Schumacher: Genau, so war das. Was Manuel Neuer betrifft: Wenn man sich in den Schützen hineinversetzt, dann muss man schon sagen: allein der Weg von der Mittellinie ist ja viel zu weit. Da hast du so viel Zeit zum Überlegen. Und wenn du nach dieser Strecke endlich den Ball in die Hand nimmst, steht dir auch noch der beste Torhüter der Welt gegenüber. Dann wird es richtig schwierig. Das ist der psychologische Vorteil von Manuel Neuer. Wenn man erstmal in dem Ruf steht, Elfmeter zu halten, hat man als Torwart einen riesigen Vorteil.

Was zeichnet Manuel Neuer in Ihren Augen aus?

Schumacher:
Er hat das Torwartspiel neu erfunden, indem er den Libero gleich mitgespielt hat. Manuel Neuer ist darüber hinaus ein absolut ruhiger, sachlicher, souveräner Torwart, der das Spiel zudem schnell macht mit seinen Abwürfen, wenn er Flanken fängt. Das sieht man nur bei wenigen Torhütern, leider. Und er hat sich ein bisschen zurückgenommen, wenn er rauskommt. Die extrem riskanten Sachen vermeidet er mittlerweile.

Sie waren ein Torhüter, der noch mehr auf das psychologische Element gesetzt hat. Was war Ihre Strategie, wenn der Schütze im Elfmeterschießen auf Sie zugehen musste?

Schumacher: Ich bin ja bei aller Bescheidenheit der Erfinder des Datensammelns in dieser Disziplin. Weil ich schon damals alle Elfmeterschützen notiert habe, die irgendwo im Fernsehen gezeigt wurden. Meine Mutter, mein Vater, meine Freunde, meine Freundinnen — sie haben mir jeden Schützen aufgeschrieben, den sie gesehen haben: Den Verein, die Nummer, den Namen. Und dann ob Rechts- oder Linksfuß, flach, hoch oder halbhoch, rechts oder links. Das habe ich dann in meine Kladde geschrieben, die ich sehr penibel geführt habe. Die gibt es übrigens heute noch. Für mich gab es vor dem Schuss immer einen ganz wichtigen Moment: Wenn der Spieler sich den Ball hinlegt und dann mit dem Kopf hochkommt. Genau dann erwischt man viele Schützen dabei, wie sie in die Ecke blinzeln, in die sie schießen wollen. Wenn dann der Schütze in die von mir aus linke Ecke geguckt hat, habe ich mich etwas mehr auf das rechte Bein gestellt, damit die Ecke etwas größer aussieht und er auch wirklich dorthin schießt. Beim Schuss habe ich mich dann voll dorthin geworfen. Das hat relativ häufig funktioniert.

Sie haben das Elfmeterschießen akribisch vorbereitet, waren aber auch ein Torhüter, der den Gegner durchaus Angst gemacht hat. Wie sind Sie da vorgegangen?

Schumacher: Echt? Ich? Angst? Sagt man das so? Dann habe ich ja alles richtig gemacht. Nein, im Ernst: Das gehört natürlich dazu. Sie sagen Angst, man kann es auch Respekt nennen. Ich habe zum Beispiel die erste Flanke im Spiel nie gefangen, selbst wenn ich die Chance dazu hatte. Ich habe den ersten hohen Ball immer gefaustet, volle Kanne. Damit die Jungs wussten: Oh, da überlege ich mir lieber dreimal, ob ich da nochmal hingehe. Es gab allerdings zwei Spieler, die sind immer wieder zurückgekommen: Dieter Hoeneß und Horst Hrubesch. Die wurden dann an der Seitenlinie wegen Kopfschmerzen behandelt. Waren aber nach fünf Minuten trotzdem wieder da.

Morgen steht in Marseille das EM-Halbfinale gegen Frankreich an. Sie waren 1982 und 1986 dabei, als Deutschland jeweils im WM-Halbfinale gegen Frankreich gewann. Vor allem das erste Spiel in Spanien war ein Krimi. Erstmals in der Fußballgeschichte wurde ein WM-Spiel durch ein Elfmeterschießen entschieden. Welche Erinnerungen haben Sie an das Spiel?

Schumacher: Am meisten hängen geblieben ist dank euch Journalisten die Geschichte mit Patrick Battiston. Aber es war ja allein von der Dramaturgie bereits ein Herzinfarktspiel. Wir lagen in der Verlängerung 1:3 hinten. Das holt keine Mannschaft der Welt mehr auf, nur die Deutschen. Unsere Stärken waren rennen, kämpfen, kratzen, beißen und nicht aufgeben bis zur letzten Sekunde. Das alles haben wir in die Waagschale geworfen und haben tatsächlich den Ausgleich geschafft.

Dann kam es zum Elfmeterschießen.

Schumacher:
Richtig. Die Förster-Brüder aus Stuttgart haben mir gesagt, in welche Ecke Didier Six schießen würde, der damals beim VfB spielte. Den habe ich als ersten gehalten. Dann kam Maxime Bossis, der Vorstopper. Heute können die ja alle gut kicken und wie Jogi Löw sagt, gibt’s keine Ausputzer mehr. Damals waren diese Spieler meistens etwas rustikaler. Wenn so einer Rechtsfuß war, hat er immer diagonal geschossen, also in die rechte Torwartecke. Das war der zweite, den ich gehalten habe.

Stimmt die Geschichte mit Uli Stielike? Er hatte verschossen und Sie sollen ihn getröstet haben mit den Worten: ‚Den nächsten halte ich für dich.‘

Schumacher: Ganz so liebevoll war das nicht. Ich habe ihm gesagt: ‚Jetzt mach dich vom Hof hier, den nächsten halte ich für Dich‘.

So kam es dann auch.

Schumacher: Es gibt übrigens kein Fernsehbild von diesem gehaltenen Elfmeter, zumindest habe ich bis heute noch keines gesehen. Die Kameras waren alle auf Stielike gerichtet, wie der Litti ihn getröstet hat. Man kann dann an Littis Lippen erkennen wie er sagt: ‚Der hat ihn gehalten‘.

Sie haben die Geschichte mit Patrick Battiston angesprochen. Sie kamen beim Herauslaufen nicht an den Ball, bei dem Zusammenprall mit Ihnen erlitt der Franzose eine Gehirnerschütterung, Wirbelverletzungen und verlor zwei Zähne.

Schumacher: Was in der Diskussion immer untergeht: Es ging ja in der Nachbetrachtung nie um den Ball, sondern darum, wie ich mich nach der Szene verhalten habe. Das habe ich dem Patrick auch gesagt, als wir uns später in Frankreich getroffen haben und ich mich bei ihm entschuldigt habe: ‚Pass auf, Patrick, es tut mir leid, dass ich mich nicht um dich gekümmert habe, als du auf dem Rasen lagst. Aber wenn heute der Ball gespielt würde, wäre ich wieder unterwegs. Weil ich geglaubt habe, dass ich den Ball kriege.‘ Patrick hat meine Entschuldigung angenommen, das war mir wichtig.

Haben Sie noch Kontakt zu ihm?

Schumacher: Früher schon ab und zu, aktuell nicht mehr. Eine Zeitung wollte mich dieser Tage nach Frankreich einfliegen lassen für ein Treffen. Aber ich war unterwegs und konnte nicht. Da bei großen Turnieren die Geschichte immer wieder hochgeholt wird, wird sie immer zu meinem Leben dazugehören. Heute gehe ich relativ locker damit um.

1986 kam es bei der WM wieder zum Aufeinandertreffen mit Frankreich, zum zweiten Mal besiegten die Deutschen die hochbegabte Generation um Platini, Giresse und Tigana. Es hieß, in beiden Spielen habe Deutschland den besseren Torhüter gehabt . . .

Schumacher: Sagen Sie das oder wollen Sie, dass ich das sage?

Womöglich sind Sie anderer Meinung?

Schumacher: Nö, bin ich nicht.

Welche Erinnerungen haben Sie an das 2:0 bei der WM 1986 in Mexiko?

Schumacher: Das zweite Tor habe ich mit einem Abwurf auf Klaus Allofs direkt eingeleitet. Der hat dann auf Rudi Völler gepasst, und Rudi hat das Tor gemacht. Schöner Heber. Es war ein besonderes Spiel, weil alle von einer Revanche gesprochen haben. Die ganze Geschichte von 1982 wurde aufgewärmt. Ich kann mich gut daran erinnern, wie die Franzosen mich ausgepfiffen haben. Aber das gehört zum Fußball.

Das Spiel muss für Sie eine besondere Herausforderung gewesen sein?


Schumacher: Ja, aber ich habe schon Anfang der 70er Jahre autogenes Training gelernt. Davon habe ich profitiert, wenn es mental stressig wurde. Beim ersten Spiel nach 1982 in Frankreich, als wir 0:1 verloren haben, und wo ich als Puppe am Galgen hing hinterm Tor, da war es ja viel schlimmer. Auch da hat mir autogenes Training sehr geholfen.

Franz Beckenbauer hat damals zu Berti Vogts gesagt: ‚Jetzt stehen wir mit dieser Trümmertruppe im Finale‘.

Schumacher: Der Franz war ein genialer Fußballer. Wir Holzfüße waren halt nicht solche Filigrantechniker wie er. Wir haben wir uns nicht groß darüber aufgeregt.

Nun im EM-Halbfinale geht es gegen Frankreich, gegen den Gastgeber. Wie wichtig ist der Heimvorteil?

Schumacher: Ich habe es als Torwart immer gerne gehabt, wenn die Leute mich ausgepfiffen haben. Ich habe da zusätzliche Kraft rausgezogen. Manchmal habe ich das gegnerische Publikum sogar bewusst provoziert, bis sie gepfiffen haben. Dadurch kam ich auf die richtige Temperatur. Weil alle dann nur auf einen Fehler von mir warteten, stieg bei mir die Konzentration. Wenn man das kann, ist das eine gute Motivationshilfe.

Wie beurteilen Sie die Chance der Löw-Elf gegen Frankreich?

Schumacher: Haben die Franzosen nicht ein Deutschland-Trauma?

Sie haben halt zuletzt dreimal in Folge bei Turnieren gegen Deutschland verloren.

Schumacher: Dann wird die Serie halten. Das ist doch ein wunderbares Schlusswort.