SPD ringt mit der GroKo Vor GroKo-Abstimmung: Explosive Stimmung an der SPD-Basis
Hamburg (dpa) - Wutentbrannt verlassen zwei Männer den Saal. Sie finden, dass beim SPD-Basistreffen in Hamburg den Kritikern der großen Koalition kein Raum gegeben wird. „Da gehen wir lieber zum HSV.“
Der Bundesligaclub hat zu dem Zeitpunkt am Samstagmittag immerhin 17 Punkte - und damit einen mehr als die SPD Prozente in der jüngsten ARD-Umfrage.
Drinnen in der Messe werben vor rund 650 Mitgliedern die designierte Vorsitzende Andrea Nahles und der Übergangschef Olaf Scholz um die Zustimmung der SPD-Basis zum ausgehandelten Koalitionsvertrag mit CDU/CSU. An diesem Dienstag wird es dann ernst; rund 463.000 Mitglieder stimmen bis zum 2. März ab: GroKo oder NoGroKo?
Die Stimmung in Hamburg ist angespannt, es zeigt sich: Es wird knapp beim Mitgliedervotum. Die SPD hat nach den Chaostagen, dem Rücktritt von Parteichef Martin Schulz und dessen Verzicht, Außenminister zu werden, ein Schleudertrauma.
Und auch wenn es gut geht: Nahles und Scholz werden nicht als Protagonisten eines Aufbruchs gefeiert. Aber der Genosse Angst - die Sorge vor dem totalen Absturz bei einer Neuwahl - könnte der größte Geburtshelfer dieser schon vor dem Start fragilen Koalition werden.
Es ist die erste von sieben Regionalkonferenzen der neuen SPD-Spitze um Nahles und Scholz. Zunächst streichen sie das Erreichte heraus, etwa Milliarden für neue Wohnungen und ein schnelleres Internet, Verbesserungen bei Renten und die Eindämmung von befristeten Arbeitsverträgen.
Dann wird in Gruppen diskutiert, zum Beispiel über „8000 neue Stellen, und was noch? Wie wird die Pflege besser?“ Oder: „Welche Antworten haben wir auf die Arbeitswelt von morgen?“ Und: „Wie kann die SPD sich erneuern, wenn sie gleichzeitig regieren muss?“ Nur Mitglieder sind zugelassen, keine Presse. Dutzende Mitglieder gehen vorzeitig. Andere betonen dagegen, sie seien heute von der Koalition überzeugt worden.
Golnar Sepehrnia ist dagegen verärgert, weil es geheißen habe, es solle eine faire Debatte mit den Kritikern geben. „Die Dreistigkeit, mit der sich daran nicht gehalten wird, finde ich ärgerlich.“ Richtig wäre es gewesen, wenn es Pro- und Contra-Beiträge gegeben hätte, sagt die 41-Jährige. Die Veranstaltung sei aber „eine Werbeveranstaltung des Parteivorstands“ gewesen. Vom Herzen her sei die Mehrheit eindeutig gegen die GroKo.
Von drinnen dringt ab und an eine sehr laute Stimme von Nahles nach draußen, hinterher gibt sie sich optimistisch, dass es gut gehen wird.
Aber neben Scholz und Nahles, die bei einem Parteitag am 22. April SPD-Chefin werden will, zieht Simone Lange die Aufmerksamkeit auf sich. Die Flensburger Oberbürgermeisterin überreicht beiden ihre Kandidatur gegen Nahles - die ignorieren Lange, lustlos nimmt Scholz im Vorbeigehen die Bewerbung ab. Nur ein kurzes Hallo, sonst nichts. Nahles' Sprecherin sagt, es habe nunmal ein großes Gedränge beim Reingehen gebeben. Aber auch danach reden sie kein Wort mit der Gegenspielerin.
Lange ist enttäuscht von der Konferenz. „Ich hatte die Erwartung, beide Seiten zu hören.“ Warum habe die Führung nicht die Souveränität, auch den GroKo-Gegner Kevin Kühnert, den Juso-Chef einzuladen? Und sie hätte die Veranstaltung für die Öffentlichkeit geöffnet, sagte sie. Der Koalitionsvertrag habe schließlich Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft.
Lange fordert ein Ende der SPD-Entscheidungen in kleinen Zirkeln, Transparenz, neue Ideen. Die AfD habe zum Beispiel dort die größten Erfolge, wo viele Haushalte von Sozialhilfe abhängig sind. „Die Frage ist doch, ob ein Anheben der Sozialleistungen dazu führt, die Gesellschaft zufriedener zu machen.“ Es gehe darum, größere Ideen zu entwickeln, „statt wieder an den gleichen Stellschrauben zu drehen, an denen wir schon die letzten 13 Jahre drehen“.
Ortswechsel: Recklinghausen, hier diskutieren am Freitag auf Einladung des SPD-Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe, einem Verfechter von Rot-Rot-Grün, anders als in Hamburg Gegner und Befürworter gemeinsam. Ein Rentner, seit fünf Jahrzehnten für die SPD in Marl aktiv, sagt zu Kühnert, der dort gerade gesagt hat, man solle sich von den Horrorszenarien bei einem Nein zur GroKo nicht kirre machen lassen: „Es gibt dann Chaos, keine Regierung.“ Wenn die SPD-Mitglieder Nein sagten, dann mache er nicht mehr mit. „Dann guck' ich mir dat nur noch ausm Liegestuhl an.“ Er wolle nicht, das „dat alles in den Müll kommt“ und der nächste Vorstand weggejagt werde.
Kühnert kritisiert mehr als 100 Prüfaufträge und Kommissionen im Koalitionsvertrag, so könne man keine Politikwechsel verwirklichen. Er fragt: Was wird gegen eine „krass ungleiche“ Vermögensverteilung getan, warum werden nicht höhere Vermögen und Konzerne stärker besteuert?
„Hört auf mit dieser Politik, die Maßnahmen in 10, 15 oder 20 Jahren ansetzt.“ Da werde das Klimaziel von 40 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2020 einfach aufgegeben. Jetzt werde ein neues Ziel 2030 ausgerufen. „Das ist eine Politik, die Verantwortung weit in die Zukunft schiebt.“
Er diskutiert mit SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel, der betont, mit einem Bundestagswahlergebnis von 20,5 Prozent sei nun einmal mit der Union nicht die reine Lehre umzusetzen. „Ich bin dafür, den kleinen Fortschritt zu nehmen.“
Der SPD droht bei einer Neuwahl ein Überholen durch die AfD - das, und weniger die Inhalte, scheinen an der Basis disziplinierend zu wirken. „Die Verzweiflung ist hinreichend groß“, sagt ein erfahrener Genosse. Er tippt auf 60:40 für Ja beim Basisvotum.
Als hätten Nahles und Scholz nicht schon genug Sorgen, wird auch das Sigmar-Gabriel-Problem immer virulenter - darf er Außenminister bleiben, wenn die Basis Ja sagt zur erneuten großen Koalition? Er hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass der „Welt“-Journalist Deniz Yücel in der Türkei frei gekommen ist. Aber Nahles, Scholz und die übrige Spitze haben alle ihre Erfahrungen mit dem Mann aus Goslar gemacht, insbesondere mit dessen Alleingängen und Sprunghaftigkeit. Sie trauen ihm nicht über den Weg. Und er nervte sie zuletzt mit Ratschlägen zur Neuaufstellung der Partei.
Doch Nahles eiert herum, die Parteispitze will die Besetzung der sechs SPD-Ministerien erst nach einem erfolgreichen Mitgliedervotum benennen, also nach dem 4. März. Auf die Frage, ob sie Gabriels Verbleib unterstütze, sagt Nahles in Hamburg: „Das war heute kein Thema hier.“ Für einige war es allerdings auch etwas zu viel, dass Gabriel extra im Newsroom der „Welt“ aufschlug, um die Yücel-Freilassung zu feiern. Nahles hatte ihn kurz vorher via „Spiegel“ ermahnt: „Es ist jetzt nicht die Zeit, dass einzelne eine Kampagne für sich selbst starten.“