Spur des Blutes: Taryn Simon in Berlin
Berlin (dpa) - Taryn Simon (36) gilt als Star der US-Kunstszene. Mit ihren Bildern über unschuldig zum Tode verurteilte Menschen („The Innocents“) hat sich die New Yorkerin auch international als eine der wichtigsten Fotokünstlerinnen der Gegenwart profiliert.
In der Neuen Nationalgalerie in Berlin stellt sie jetzt ihr jüngstes und ambitioniertestes Projekt vor - ein weltweit angelegtes Puzzle über den immerwährenden Kreislauf von Leben und Tod, Schrecken und Gewalt.
„A Living Man Declared Dead and Other Chapters“ (Ein lebendiger Mann, für tot erklärt, und andere Kapitel) - unter diesem Titel erzählt Simon 18 ungewöhnliche Geschichten von Menschen, deren Leben jeweils durch „Blutlinien“ (bloodlines) verbunden sind. „Mich interessiert, was das Schicksal bestimmt - der Zufall, die Blutsverwandtschaft oder andere Umstände“, sagte die Künstlerin am Dienstag bei einer Pressevorführung.
Vier Jahre lang ist sie um die Welt gereist, hat 24 Länder besucht und den Stammbäumen entlang fast 1000 Menschen aufgespürt. Akribisch sind die Fälle recherchiert und dokumentiert. Sie erzählt etwa von zwei brasilianischen Familien, die für immer durch Blutrache miteinander verbunden sind, von Opfern des Völkermords in Bosnien, von Waisenkindern in der Ukraine und dem Doppelgänger des Sohns von Saddam Hussein.
Aus diesen dunklen Geschichten sind stille, seltsam distanzierte Porträts entstanden, oft über drei, vier Generationen hinweg. Die Protagonisten sitzen - häufig in ähnlicher Haltung - vor einem hellen, neutralen Hintergrund. Und erst ihre Gesamtschau macht das eigentliche Bild aus. Sie habe keine Botschaft, sagt Simon. Ihr gehe es mehr um das Nachspüren und Erforschen von Zusammenhängen: „Es ist absichtlich ohne Absicht.“
In der lichtdurchfluteten Halle der Nationalgalerie, dem letzten kühnen Mies van der Rohe-Bau, sind die 18 Fotoserien in großen, schwarz geölten Regalkästen angeordnet, wie in einem Archiv. Jeweils im linken Teil hängen in langen Reihen die kleinformatigen Porträts, dazwischen gibt es eine schriftliche Erklärung und rechts als „Fußnoten“ Bilder, Karten, Textdokumente. „Ein Blick auf die Menschheitsgeschichte“, sagt Galerie-Direktor Udo Kittelmann. „Diese Ausstellung muss wie eine Erzählung gelesen und studiert werden.“
Aus Deutschland berichtet Simon von Hitler-Berater Hans Frank, der 1946 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet wurde. Sie zeigt unvermittelt nebeneinander sein Arbeitszimmer im Schoberhof am Schliersee, Leonardo da Vincis „Dame mit dem Hermelin“, die er dorthin schaffen ließ, und einen Tagebucheintrag zur Judenvernichtung. Franks Stammbaum hat besonders viele leere Bilder - mehrere Verwandte wollten sich nicht fotografieren lassen, andere schickten nur ihre Kleidung.
Ihren Titel hat die Ausstellung von vier jungen Bauern in Indien, deren Verwandte sie für tot erklären ließen, um an ihren Grundbesitz zu kommen. Mehrfach haben die Männer versucht, vor Gericht ihre Existenz zu beweisen, aber Korruption und überkommene Machtstrukturen verwehren ihnen ihr Recht.
Simon zeigt diese Missstände, Verbrechen und Gräueltaten auf, ohne anzuklagen. „Ich will ganz bewusst eine fast unangenehme Trennung zwischen Bild und Zuschauer schaffen“, sagt sie. Die Schau ist bis Anfang Januar in Berlin zu sehen, dann soll sie im New Yorker MoMa (Museum of Modern Art) gezeigt werden.