Alternativ-Pop: Neues Album von Tocotronic - Willkommen im Ungefähren
„Kapitulation“ heißt das neue Tocotronic-Album. Wie begegnet man einer Band, die nicht interpretiert, eigentlich noch nicht mal verstanden werden will? Ein Versuch!
Düsseldorf. Jetzt ist es also passiert. Tocotronic haben bei einem Major-Label unterschrieben, mit Universal immerhin der experimentierfreudigsten unter den Platzhirsch-Plattenfirmen, aber die Unabhängigkeit, so könnte man meinen, ist dahin.
Ist aber völlig falsch. Bassist Jan Müller lächelt gelassen: "So paradox das jetzt klingt, aber man hat als Künstler wesentlich mehr Freiheiten, wenn man nicht die ganze Mitverantwortung für den Laden trägt und immer denkt, wenn ich jetzt nicht zu ,The Dome’ gehe, dann gefährde ich die ganze Firma." Solche Töne hätte man von einer Band, die seit Mitte der 90er die Blaupause verkopfter Linksintellektualität verkörpert, nicht erwartet. Klingt aber erschreckend logisch.
Plötzlich fanden Tocotronic in den Charts statt. Dem Mainstream gaben sie sich trotzdem nie preis, dazu blieben sie zu unnahbar, pflegten die elitäre Alternativ-Attitüde und entwickelten sich musikalisch zu detailverliebten Pop-Primaten, immer rau und unfertig, aber stets die ersten ihrer Zeit. Und jetzt wollen sie dazugehören? Zur neonbunten Masse? Nicht wirklich, oder?
Natürlich nicht. Mit "Kapitulation", ihrem achten Studio-Album, machen sie es ungeschulten Hörern gewohnt schwer. Obwohl alles doch ganz leicht sein soll: das Loslassen, das Sich-Abfinden, das Schwerelose im zwanghaft geerdeten Alltag, vor dem man kapitulieren soll, um zum inneren Frieden zu finden. Der Titeltrack hüpft denn auch fröhlich vor sich hin, Lowtzow scheint das Wort mit den vielen Vokalen zu pfeifen, so befreit preist er die Kapitulation als Ultima Ratio der irdischen Fremdbestimmtheit.
Dann hört die Greifbarkeit aber schon auf, was auch durchaus gewollt ist. Das Ungefähre ist die einzig verlässliche Konstante im Weltentwurf von Tocotronic. Lowtzow spricht vom "Haken schlagen". Eingliederung in einen größeren Kontext? Wozu? Das soll aber nicht heißen: Feuer frei zum kollektiven Interpretations-Inferno! Denn auch damit kann die Band nichts anfangen. Schließlich sind es keine verklausulierten Metaphern, mit denen gearbeitet wird. Inhaltlich sind die Songs bestenfalls "Anlässe zum Grübeln", wie Gitarrist Arne Zank das nennt.
Aber eigentlich funktionieren die Texte über ihren Klang, stellen sich in den Dienst der Musik, der mäandernden Elektrisiertheit, mit der Tocotronic vom großen Ganzen erzählen, ohne sich in der Konkretisierung zu verlieren. Eine Leistung, die ob ihrer Konsequentheit beeindruckt. Weiter war der Mainstream wohl nie entfernt.
Highlights Zwingend dröhnen am Anfang die Saiten bei "Mein Ruin", ganz am Ende steht die "Explosion", nur kurz angekündigt, aber scheinbar ewig in Nachhall aufgelöst.