Mindestlohn: Ein (fast) wertloser Triumph
Rot-Grün nutzt erstmals seine Mehrheit im Bundesrat
Rot-Grün hat im Bundesrat die Muskeln spielen lassen und ein Stück Wahlkampf inszeniert. Dank der neuen Mehrheitsverhältnisse gelang es der Opposition, den Beschluss für 8,50 Euro Mindestlohn zu stemmen. Doch auch im Triumph war ihr klar: Dieser Sieg ist real wenig wert, weil es auf den Bundestag ankommt, in dem Schwarz-Gelb die Nase vorne hat. Wenn also gestern NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) das Geschehen als „historische Entscheidung“ einordnete, kann man das mit Blick auf den Wahlkampf geschickt finden — oder auch ein wenig albern.
Nicht faktisch, aber zumindest taktisch, bringt die ungewohnt brisant geratene Bundesratssitzung die Opposition in eine gute Position. Dass auch das von einer CDU-Ministerpräsidentin geführte Saarland für den Mindestlohn stimmte, lässt aufhorchen. Doch Annegret Kramp-Karrenbauer schien keine andere Wahl zu haben, weil sie an eine entsprechende Formulierung in ihrem Koalitionsvertrag mit der SPD gebunden ist. Dennoch ist das Votum des Saarlands ein für Union und FDP schlechtes Signal. Die Mindestlohn-Sympathisanten in ihren Reihen könnten sich ermutigt fühlen. Allerdings wird der Bundestag wohl vor der Wahl nicht darüber abstimmen. Angela Merkel und ihre Getreuen werden dies mit geschickter Verzögerungstaktik verhindern.
Es wird in den nächsten sieben Monaten beim Mindestlohn keine echte Weichenstellung geben. Stattdessen viel nervige Propaganda im Wahlkampf. Emotion pur also statt Sachlichkeit, die für dieses Thema angemessen wäre. Denn es geht um viel. Vor allem die 2,5 Millionen Menschen, die weniger als sechs Euro verdienen, warten sehnlich auf eine Verbesserung ihrer Situation. Unsere Gesellschaft sollte es wirklich schaffen, dass jede Vollzeitkraft auch von ihrem Einkommen leben kann.
Allerdings darf für dieses Ziel ein dirigistisches Eingreifen des Staates nur das letzte Mittel sein, nachdem alle anderen Instrumente ausgereizt sind. So sollten sich die Tarifparteien anstrengen, um eine für Arbeitgeber und Arbeitnehmer erträgliche Lösung zu finden. Auch die künftig sinkende Zahl der Erwerbstätigen könnte dazu führen, dass Unternehmen von sich aus höhere Löhne bieten, um gute Mitarbeiter zu finden und zu halten.