Meinung Wer aufrechnen will, verhindert die Versöhnung

Ganze 65 Minuten ist dem Deutschen Bundestag am Mittwochnachmittag der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion wert. Die Parteien haben sich lediglich auf eine Debatte einigen können.

Foto: Schwartz, Anna (as)

Dieses Ausbleiben eines angemessenen Gedenkens an den Tod von 27 Millionen Menschen in den Ländern der früheren Sowjetunion hat der Historiker Götz Aly zu Recht als „geschichtspolitische Ignoranz und bodenlose Rohheit“ bezeichnet.

Das offizielle Deutschland, vertreten durch die Inhaber der drei höchsten Ämter im Staat, duckt sich weg. Der Bundespräsident ist zur Kranzniederlegung ausgerechnet in Bulgarien, das 1941 als deutscher Verbündeter beim Überfall mitmachte. Der Bundestagspräsident redet um 15 Uhr im Deutsch-Russischen Museum statt im Bundestag. Die Bundeskanzlerin hat die 14. Deutsch-Polnischen Regierungskonsultationen für Mittwoch angesetzt.

Man weiß kaum, was man schlimmer finden soll: Die Verletzung, die diese Geschichtsvergessenheit für Millionen von Opfer-Familien bedeutet, oder das Kalkül, mit dem diese Verletzung bewusst begangen wird: Es ist die Aufrechnung der angespannten Gegenwart — namentlich der aggressiven russische Außenpolitik, die sich seit Beginn der Ära Putin wieder des Krieges und ständiger Völkerrechtsbrüche bedient — mit der eigenen Vergangenheit. Dabei spielt genau das der russischen Darstellung in die Hände, die Nato wehre nicht etwa die post-sowjetische Aggression Russlands gegen seine Nachbarn ab, sondern wiederhole die Bedrohung Russlands von 75 Jahren.

Trifft die Einschätzung zu, dass es Putin mit bemerkenswertem Geschick gelungen ist, der eigenen Bevölkerung seine Aggressions-Politik als historische Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Kriegs“ gegen den Faschismus zu verkaufen, so ist das deutsche Schweigen über deutsche Schuld obendrein politisch dumm: wer dazu schweigt, stimmt (zumindest scheinbar) zu.

Was aber über moralische Wurstigkeit und politische Kurzsichtigkeit hinaus das Schlimmste ist, hat der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, in seinem Gedenken an den Auftakt zum Vernichtungskrieg formuliert: „Versöhnung braucht Erinnerung.“ Die Aufrechnung gegenwärtigen Unrechts mit vergangenen Verbrechen hat noch nie dem Frieden gedient.