Meinung Wertedebatte: Kein Zurück in die 60er Jahre
Einerseits wird der Beschluss der „Werteunion“ vom Wochenende medial maßlos überschätzt. Die Truppe aus CDU- und CSU-Mitgliedern ist total unwichtig, kein führender Politiker gehört ihr an. Andererseits aber spürt man angesichts der Äußerungen prominenterer Christdemokraten wie der von Jens Spahn, dass da etwas am Gären ist: Die Union ist ähnlich wie die SPD — die dortigen Debatten um Hartz IV zeigen das — auf der Suche nach ihrer Identität.
Freilich, diese Identität wird nicht die der 60er Jahre sein können. Die Rezepte der Unions-Konservativen zeugen genau wie die der SPD-Linken von der Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als Mutti noch kochte, während Vati nach getaner Industriearbeit Werner Höfers Frühschoppen schaute, in dem nur Männer saßen, die alle rauchten. Diese Zeit kommt nicht wieder. Die Welt ist eine andere geworden. In manchem besser, in manchem schlechter. Viel sozialer Zusammenhalt ist durch Leistungsdruck verloren gegangen, manches gute Essen durch Fast Food, und manche Heimat wurde Industrieansiedlungen, Autoschneisen oder der Gentrifizierung geopfert. Da waren CDU und CSU übrigens selten ein Hemmschuh, eher schon die Grünen. Was noch alt ist, verändert die digitale Revolution.
Abtreibungsverbot, deutsche Leitkultur, höhere Militärausgaben, Abschaffung der Gesamtschulen, Ende der Energiewende, geschlossene Grenzen — eine „Werteunion“ käme bei Wahlen vielleicht auf 20 Prozent. Von denen einen beträchtlichen Teil die AfD hat. Den Kanzler stellen kann man damit nicht. Das Problem aller „identitären“ Programme, ob der SPD-Linken oder der CDU-Konservativen, ist, dass sie keine Mehrheit finden würden, wenn man sie in Reinkultur wählen könnte. Weil es die Strukturen, die ihnen einst zugrunde lagen, längst nicht mehr gibt. Der SPD ist die Arbeiterklasse verloren gegangen, der Union die katholisch-bäuerliche Wählerschaft.
In Ungarn mag eine Partei wie Fidesz ankommen, in Polen ähnlich, aber dort ist die Demokratie jung, und die Leute sind anfällig für billigen Nationalismus. In Deutschland funktioniert das nicht, die Gesellschaft denkt in ihrer Mehrheit viel komplexer — weil sie komplex ist. Deshalb hat Angela Merkel recht, wenn sie immer wieder nach der „Mitte“ sucht und nach neuen Antworten auf neue Fragen. Genauso wie Andrea Nahles. Ein markantes Profil bei ausgewählten Einzelthemen ist da übrigens nicht ausgeschlossen.