Es geht um den deutschen Wald Warum der Hambacher Forst das Symbol unserer Seele ist

KErpen · Was das Oberverwaltungsgericht Münster auch immer entscheidet, RWE kann den Kampf nicht mehr gewinnen. Es geht um weit mehr als ein paar Bäume. Es geht um den deutschen Wald an sich.

Der deutsche Wald besteht im Bewusstsein der Deutschen nicht nur aus ein paar Bäumen mit Hirschen. Er ist ein mythologischer Ort, an dem alle deutschen Sagen und Märchen wurzeln.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Was vom einstigen Hambacher Forst noch übrig ist, sind etwa 200 von einst 4000 Hektar Waldbestand. Das entspricht etwa 42 000 Bäumen. Sie sind weder „Europas letzter großer Mischwald” (allein der beschauliche Pfälzerwald in Rheinland-Pfalz ist mehr als 300 mal so groß), und es ist auch kein „12 000 Jahre alter Wald“ (die Bäume stünden dann seit der letzten Eiszeit). Die ältesten Hambacher Bäume können nicht älter als 350 Jahre alt sein. In Wahrheit ist der Hambacher Forst aber längst viel mehr als das. Er ist ein Symbol, und zwar das psychologisch mächtigste, das sich in Deutschland überhaupt finden lässt: Hambach ist der deutsche Wald.

Worum es beim Konflikt um den Hambacher Forst geht
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Foto: dpa/Oliver Berg

Dieses Symbol ist wirkmächtiger als jede Fakten-Argumentation, und das psychologisch Falscheste, was man ihm entgegenhalten kann, ist eine „unbequeme Wahrheit“, wie RWE-Vorstand Frank Weigand sie jüngst im ARD-Morgenmagazin verkündete: „Symbole liefern keinen Strom.“ Drastischer kann man das Unverständnis kaum dokumentieren, von welcher Art die Energie ist, die der deutsche Wald den Deutschen liefert. Er ist ein Mythos.

Alle wichtigen deutschen Sagen und Märchen spielen im Wald. Im Wald besiegte Siegfried den Drachen und dort fiel das Lindenblatt auf ihn herab. Im Wald besiegte Arminius die römischen Legionen des Varus. Im Wald verirrten sich Hänsel und Gretel. Und spätestens seit dem 19. Jahrhundert, als der politische Flickenteppich der deutschen Länder sich anschickte, eine Nation zu werden, ist Deutschland – im Guten wie im Bösen – ohne den Wald nicht mehr denkbar.

Vom ursprünglichen Hambacher Forst sind noch 200 Hektar mit 42 000 Bäumen übrig. Genau so viele Menschen sind von Umsiedlungen betroffen.

Foto: dpa/Henning Kaiser

Niemand verspottete den Historiker Wilhelm Heinrich von Riehl (1789–1839), als er eine Analogie von der bevorzugten Landschaft zum „Nationalcharakter“ der Völker zog: Dem Engländer entspreche der gestaltete und umzäunte Park, dem Franzosen das gerodete Feld (von der französischen Revolution hat sich der Wald des Nachbarlandes nie erholt) – und dem Deutschen entspreche die „Waldwildnis“. Diese verwandelte sich nach ihrer weitgehenden Abholzung während des Mittelalters im Laufe der Geschichte zu einem Sehnsuchtsort; manchmal zu einem verspotteten oder unheimlichem.

Für Heinrich Heine war der deutsche Wald das genaue Gegenteil französischer Urbanität, die er ebenfalls mit deutscher Wald-Metaphorik beschrieb, „dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter“; das sei doch das Beeindruckendste, „was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann“, schrieb er 1827 in seinen Reisebildern.

Wie sehr die Deutschen dagegen der Wald faszinierte, hielt die berühmte Madame (Germaine) de Staël (1766–1817) in ihrem über mehr als 100 Jahre das Deutschlandbild der Franzosen bestimmenden Buch „Über Deutschland“ fest. Goethes Mutter beschwerte sich über die sehr von sich überzeugte Person: „Mich hat sie gedrückt, als wenn ich einen Mühlstein am Hals hangen hätte.“ Vieles von dem, was die von sich sehr überzeugte Baronin zu Papier brachte, war wenig schmeichelhaft für die Deutschen. Keine Baukunst, keine Hauptstadt und: „Dem Deutschen fehlt es, mit wenigen Ausnahmen, an Fähigkeit zu allem, wozu Gewandtheit und Geschicklichkeit erfordert wird.“

Fasziniert war sie von einer Beschreibung des Rheinländers Johann Joseph Görres (1839–1776) einer alten Kirche, in der sie Wald-Begeisterung der Deutschen mit der gotischen Kirchenbauweise zusammenfließen sah: „Die dunklen Bogengänge der Kirche bedecken die Entschlafenen mit ihren Schatten; und man könnte glauben, man befinde sich in einem Walde, dessen Zweige und Blätter der Tod dermaßen durchdrungen hat, dass sie sich nicht wiegen und bewegen können, wenn die Jahrhunderte, gleich den Nachtwinden, sich fangen in ihren verlängerten Gewölben.“

Man könnte diese Überhöhung des Waldes für einen „Nationalcharakter“ verlachen, wenn sie kulturell nicht so nachweisbar wirksam wäre. Elias Canetti (1905–1994) sah 1960 in „Masse und Macht“ im deutschen Wald ein regelrecht finsteres Symbol: „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer; es war der marschierende Wald. Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme ins Heer voraus.“

Nach dem Missbrauch des Waldes durch die Nationalsozialisten, die sein Betreten durch Juden verboten und polnische Hirsche importierten, damit er noch deutscher wurde, flohen die Deutschen in den ersten Nachkriegsjahren kulturell wieder in den Wald: Im Heimatfilm der 50er Jahre suchte die deutsche Sehnsucht nach unpolitischer Selbstvergewisserung Zuflucht beim Förster im Silberwald, vergnügte sich an der störrischen Geierwally und richtete sich mental dort ein, wo die alten Wälder rauschen. Und selbst die kritischeren Nachgeborenen, die nun wieder Brecht lasen, wurden im deutschen Tann abgeholt: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Entsprechend kann es nicht verwundern, dass in der langsam erwachsen werdenden Bundesrepublik eine breite gesellschaftliche Mehrheit ihr Umweltbewusstsein in dem Moment entdeckte, als in den 80er Jahren das „Waldsterben“ die deutsche Seele aufschreckte. Plötzlich mutierten auch Städter zu Experten für „sauren Regen“. In bürgerlichen Haushalten hingen Postkarten mit der Mahnung „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch“ an den (noch keineswegs FCKW-freien) Kühlschränken.

„1984 und 1985 nannten viele Bundesbürger das Waldsterben als das wichtigste politische Thema nach der Arbeitslosigkeit; und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Lage und parteipolitischen Präferenzen“, stellte im Jahr 2009 eine Studie mit dem Titel „Was macht eigentlich das Waldsterben?“ fest.

Bekanntermaßen starb der deutsche Wald überhaupt nicht. Es gab ernsthafte Schäden, tatsächlich wuchs und gedieh der deutsche Wald. Auf dem Höhepunkt der Debatte vor 30 Jahren überschritt der angeblich siechende Schwarzwald seine historisch größte Ausdehnung. Geblieben ist aus der Debatte, in deren Folge die Luftreinhalte-Vorschriften in Deutschland massiv verschärft wurden, jedoch die die politische und gesellschaftliche Dauerbeobachtung des Abbilds der deutschen Seele. Inzwischen gibt es in Deutschland eine „Bundeswaldinventur“, alle zehn Jahren werden die Bäume gezählt. Es sind aktuell 375 pro Kopf der Bevölkerung. Ein Drittel der Oberfläche des Landes sind von Wald bedeckt – und er wächst weiter.

In Deutschland, wo 1442 im Bistum Speyer die weltweit allererste Verordnung zum Schutz des Waldes ebenso erfunden wurde wie der weihnachtliche Tannenbaum, ist unverändert kaum einem anderen Thema soviel Aufmerksamkeit sicher wie dem Wald. In Sachen Braunkohle steht diese Aufmerksamkeit in krassem Missverhältnis zu dem Desinteresse, dass gegenüber anderen Tagebaufolgen im Rheinischen Revier herrscht: Braunkohleabbau bedeutet die vollständige Zerstörung von allem. Denn wo die Bagger waren, bleibt nichts zurück. Als hätte es dort keine Geschichte und keine Zeit gegeben. Kein Leben, nichts. Das alles ist durch die Schornsteine der Kraftwerke am Rande der Grube gegangen. Siedlungs- und Beerdigungsplätze aus der Zeit der Neandertaler. Tausende Jahre Kultur und Siedlungsgeschichte. Weg. Abgebaggert und zu Strom verbrannt.

Rund 42 000 Bäume stehen noch im Rest des Hambacher Waldes. Zufällig ist seit den 30er Jahren die gleiche Zahl von Menschen im Rheinischen Revier von „Umsiedlungen“ betroffen gewesen und noch immer betroffen. Rund 140 Ortschaften und Gehöfte werden für immer verschwunden sein, wenn RWE denn irgendwann mit dem Tagebau fertig ist. Bei den „Umsiedlungen“ sind nicht nur Dorfgemeinschaften zerbrochen, sondern auch Biographien. In den 50er und 60er Jahren lagen die Raten von Selbsttötungen und Scheidungen weit über dem Bundesdurchschnitt. Und keiner der Baumbeschützer fragt, was die aktuelle Kontroverse für die Menschen bedeutet, die wenige hundert Meter hinter dem Wald noch in den Häusern eines sterbenden Dorfes leben.

Morschenich ist so ein Ort. Vor einem Jahr lebten dort noch etwa 60 Menschen, die Hälfte davon Asylbewerber. Die meisten der einst fast 500 Einwohner haben inzwischen einige Kilometer weiter in Morschenich-Neu eine Umsiedlungs-Heimat gefunden und bemühen sich, in einer Siedlung vom Reißbrett eine Dorfgemeinschaft zu bleiben, mit Schützen- und Sportvereinen. Wer wollte ihnen eigentlich erklären, dass das alles umsonst war, wenn die Bagger plötzlich vor den Bäumen des Hambacher Rest-Forstes stoppen?

Forscher der Uni Bonn haben einem Projekt zu den Umsiedlungen im Braunkohlerevier ein Gedicht der Essener Schriftstellerin Marion Poschmann vorangestellt: „wir atmeten Staub, fraßen Staubgardinen, die in den Geisterdörfern noch immer hinter vernagelten Fenstern hingen, wir wanderten langsam die Abbruchkante entlang wie die umgesiedelten Friedhöfe. aus neuen Schläuchen stieg weißer Niesel, beschwichtigende Berieselung – Mondlandschaft verschlang uns die Sprache“, heißt es da. 42 000 Bäume, 42 000 Schicksale. In Hambach sieht man vor lauter Wald derzeit die Menschen nicht mehr.