Diskussion Bürger-Dinner: Soll der Staat gegen Einsamkeit kämpfen?

Beim Bürger-Dinner im Jungen Schauspielhaus diskutierte das Publikum über Einsamkeit.

Foto: Judith Michaelis

Düsseldorf. Junges Schauspielhaus, Foyer. 100 Bürger sitzen an feierlich gedeckten Tischen, trinken Wein und Wasser, diskutieren miteinander, Experten halten Kurzvorträge. Die Stimmung: gesellig. Blick zur Wand. Auf einer Box hockt der Chef des Jungen Schauspiels, Stefan Fischer-Fels. Abseits der Tischgesellschaft. Ist er glücklich allein oder traurig einsam? So lautete das Motto des inzwischen etablierten Bürger-Dinners. Zum zehnten Mal hintereinander war die Veranstaltung ausgebucht. Sie wird immer als „Gesellschaftsspiel“ inszeniert.

Das Moderatoren-Trio Stefan Fischer-Fels, Marion Troja (Pressesprecherin Junges Schauspiel) und Thiemo Hackel (der Theaterpädagoge sprang für den probenden Bürgerbühnen-Leiter Christof Seeger-Zurmühlen ein) begrüßten drei Experten, die mit kurzen Tischreden das Phänomen der Einsamkeit definierten, beleuchteten und das Publikum zur Diskussion anregten. Dazu gibt es ein kostenloses Drei-Gänge-Menü nebst Wasser und Wein, am Ende können die Gäste etwas spenden. Der Musiker Peter Rübsam spielte zwischendurch Akkordeon — das Instrument, das gemeinhin Sehnsucht, Verzweiflung und Melancholie symbolisiert.

Der Aufhänger der abendlichen Veranstaltung: Englands Premierministerin Theresa May gründete ein zu Beginn dieses Jahres ein Ministerium für Einsamkeit, um die „Epidemie im Verborgenen“ (so das Rote Kreuz) anzugehen. Seitdem diskutieren auch deutsche Politiker, ob der Staat sich im Kampf gegen Einsamkeit stärker engagieren müsse.

Erster Gang: Couscous-Rote-Beete-Salat mit Ziegenfrischkäse, Äpfeln und einem Sesam-Karotten-Stick. Die erste Rede lieferte Bettina Pause, Professorin für biologische Psychologie an der Heine-Uni. Sie machte mit den neuen Ergebnissen aus der Einsamkeitsforschung vertraut. Frappant: Einsamkeit erhöht das Sterberisiko um 50 Prozent und ist damit schädlicher als Alkohol oder Rauchen. Noch beängstigender: Die Vereinsamung in der westlichen Hemisphäre nimmt zu. Dabei dürfe Einsamkeit nicht mit Alleinsein verwechselt werden.

„Man kann glücklich und zufrieden allein sein, wenn man zum Beispiel gute Musik hört oder wenn man sich draußen in der Natur bewegt“, so Pause. Einsamkeit ist hingegen ein Zustand, den ein Mensch nicht freiwillig wählt, sondern der ihm widerfährt. Wird Einsamkeit chronisch, hält sie also länger an, wirkt sie wie purer Stress. Mögliche Folgen: körperliche Erkrankungen wie Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs. Ebenso psychische Störungen wie Depression oder Schizophrenie. Weitere Negativ-Effekte: Das logische Denken, die Konzentrationsfähigkeit und das Erinnerungsvermögen lassen nach. Nicht zuletzt ändert sich das Sozialverhalten. „Einsame Menschen lassen sich häufiger ausnutzen, weil sie sich freuen, dass sie überhaupt in Kontakt gekommen sind“, erläutert Pause.

Zweiter Gang: Süßkartoffel-Curry mit Hokkaido-Kürbis. Tischredner: Pastor Ulf Steidel, der die Düsseldorfer Telefonseelsorge leitet. Auch er startete mit einem erschreckenden Faktum: „Allein in Deutschland nehmen sich in jedem Jahr 10 000 Menschen das Leben. Das sind mehr Tote durch Suizid als durch Verkehrsunfälle und Drogenmissbrauch.“ Die Motive der von Einsamkeit betroffenen Anrufer seien vielfältig, etwa den Tag nicht zu beenden, ohne vorher mit einem Menschen ein Wort gewechselt zu haben. Außerdem verwies Steidel darauf, dass Einsamkeit kein Nischenphänomen sei, also Vertreter einer bestimmten Gesellschaftsgruppe treffe wie etwa Wohnungslose. Vielmehr ziehe sich Einsamkeit quer durch alle Schichten.

Dritter Gang: Cheesecake-Creme an Walderdbeeren. Dritter Redner: Wolfgang Reinbacher, seit über 50 Jahren Bühnenakteur am Düsseldorfer Schauspielhaus. Reinbacher, der 2011 den Tod seiner Frau und Bühnengefährtin Eva Böttcher verkraften musste, schützt sich mit seinem Theaterberuf vor der Einsamkeit: „Man hat Kontakt zu allen Generationen. Wenn man sieht, wie sich die jungen Leute, die von der Schauspielschule kommen, in unsere Shakespeare-Stücke hineinwerfen, macht das einen jung.“

Auf Anregung der Referenten diskutierte das Publikum über die Fragen, wie das Problem der Einsamkeit reduziert werden kann und was einen guten Zuhörer eigentlich ausmacht, der für einsame Menschen ja das A und O darstellt. Die Idee eines Ministeriums für Einsamkeit goutierten die dinierenden Gäste. Es solle Strukturen schaffen und Gelder bereitstellen, um auf lokaler Ebene Angebote für soziale Teilhabe im Alter zu ermöglichen. Potenziale seien schon vorhanden. Etwa die Zentren plus, die Menschen nach dem Arbeitsleben helfen, neue soziale Kontakte aufzubauen und an Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Auch das Internet sei hilfreich, gebe es dort doch zahlreiche Kontaktbörsen wie den Düsseldorfer Freizeittreff. Dieser stellt Veranstaltungen online, an denen Interessierte teilnehmen können. So auch das Bürger-Dinner, das lebendig und ergiebig verlief. Es hat gezeigt: Einsamkeit ist eine Krankheit, die es in allen sozialen Arenen zu enttabuisieren und zu bekämpfen gilt.