Die Obszönitäten der Baubranche
Einen großen Theaterabend bescherte die Gruppe „Rimini Protokoll“ jetzt Düsseldorf.
Die Zuschauer bleiben in der ihnen zugewiesenen Gruppe, verlassen sie während der kommenden zwei Stunden nicht ein einziges Mal. Das ist die einzige Orientierungshilfe, neben den Ansagen über Kopfhörer, die alle Besucher aufsetzen. Um 19.30 Uhr öffnet sich die Tür des Düsseldorfer Central am Hauptbahnhof zum „Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)“, dem neuen Projekt der Theatermacher von „Rimini Protokoll“. Uraufführung war am Freitag.
Man darf sich von dem sperrigen Titel nicht täuschen lassen — die Inszenierungen der vielfach ausgezeichneten Gruppe dokumentieren konkrete Ereignisse, ihre Stücke sind keine Frontshow, sondern Erlebnisräume, in denen der Zuschauer nicht mehr Zuschauer mehr ist, sondern Mitwirkender. Nach Waffenhandel, Hitlertagebuch und Müllersammlern in Istanbul jetzt also Großbaustelle. Die Bühne im Central, dem Probenzentrum des Schauspielhauses, ist Container, Sandberg, Minikran und Arbeitsmaterialien gewichen.
Die Zuschauer tragen Helme mit eingebauten Kopfhörern und werden über die Baustelle geführt, wo sie unterschiedlichen Menschen begegnen. Einem Polier, einem Anwalt, einem Stadtentwickler und einem Investorenscout. Sie sind real, keine Darsteller, und sie werden auch nicht zu solchen stilisiert. Die Gruppe Rimini Protokoll wählt für ihre Stücke stets „Spezialisten der Wirklichkeit“, die das Leben in so viele Einzelteile zerlegen, dass man sich sofort aufmachen möchte, um es zu verändern. Alfredo di Mauro zum Beispiel ist seit mehr als 40 Jahren Planer für Gebäudetechnik. Er hat die Entrauchungsanlage am Berliner Flughafen geplant, die angeblich nicht funktioniert und die teure Eröffnungsverzögerung verschuldet haben soll. Sieben Jahre hat er an dem Flughafen mitgearbeitet. „Und heute stecke ich im Dreck.“ Er jammert nicht mal darüber, mault nicht, sondern beschreibt sachlich seinen Untergang. Konsequent vermeiden die Theatermacher jede Mitleidstour. Sie setzen auf die Wucht der Fakten.
Monatelang recherchieren sie, holen sich Abfuhren wie bei ihrer Frage nach der Kostenüberschreitung beim Stadionbau für die Fußball-WM 2020 in Katar, reisen nach Cannes und drehen Videos vom Haupteingang der Immobilienmesse, treffen eine Gewerkschafterin, die sie über die Situation osteuropäischer Arbeiter in Deutschland aufklärt. Auf diese Weise lernen sie Marius Ciprian Popescu kennen und gewinnen ihn als einen „Experten“. Der junge Rumäne führt bis zur Krise 2011 in seiner Heimat ein eigenes Unternehmen und landet schließlich in Köln als Schwarzarbeiter, wo er sich mit 20 Fremden einen kleinen Schlafraum teilt. Eine Festanstellung verweigert ihm der Chef. Zu teuer. Marius lebt in Angst, muss sich verstecken. Auf beklemmende Weise werden die obszönen Mechanismen der Baubranche offengelegt: die Eitelkeiten und Vergehen der Architekten, die nicht mehr bauen, sondern andere für sich Ikonen errichten lassen, die Macht der Investoren, die Regelbrüche der öffentlichen Hand. Am Ende steht der Zuschauer vor der Frage: Wie wäre es, wenn ihr selbst eingreift und eure Städte plant? Eine ungeheuer dynamische Inszenierung geht nach zwei Stunden ohne Pause (die niemand vermisst) zu Ende, aufklärerisch und fordernd. Ironisch, manchmal lustig. Ein Kunstwerk, das sich aus der Realität speist und auf sie zurückverweist. Ein großer Theaterabend, den das Publikum zu Recht bejubelt.