Kolumne Dr. Italo-Disco feiert Fortuna-Weihnachten

Düsseldorf · Der eine hört pausenlos italienische Dance-Hits aus den 80ern, die andere züchtet Formentera-Gewürze, und der Dritte trägt keinen Ironieschnauzer: Eine Bilker Weihnachtsgeschichte mit Fortuna Düsseldorf und dem FC Barcelona in tragenden Nebenrollen.

Fortunas erste Elf im Finale des Europapokals der Pokalsieger am 16. Mai 1979: Gerd Zimmermann, Dieter Brei, Heiner Baltes, Egon Köhnen, Klaus Allofs, Wolfgang Seel (oben von links), Rudi Bommer, Gerd Zewe, Jörg Daniel, Hubert Schmitz, Thomas Allofs (unten von links).

Foto: HORSTMÜLLER GmbH

Ausufernd harte Gitarren kämpfen gegen Synthesizer-Bässe. Dr. Italo-Disco, der eigentlich Ulf Zimmermann heißt, hat gerade „Tarzan Boy“ von Baltimora zu Ende gehört, als von nebenan Iron Maiden durch die Altbauwand dröhnen. Er schiebt sich eine tiefgekühlte Pizza Spinaci in den Backofen. In diesem Moment springt seine Spotify-Playlist auf „Get Closer“ von Valerie Dore. Dr. Italo-Disco singt mit: „Here we are again / changing your life can save you / Close to your magic dream / close to the people.” Vor einer Woche ist er aus dem ehelichen Reihenhaus aus- und in die Zwei-Zimmer-Wohnung in Bilk eingezogen. Trennung. Das Leben neu einrichten, Ruhe finden. Wobei Ruhe-finden für Dr. Italo-Disco eindeutig mit Laute-Musik-hören verbunden ist.

25 Jahre war er mit einer Frau zusammen, die auf Phil Collins steht – und ihm stets verboten hat, die Boxen voll aufzudrehen. Nun hat sie ihn für den gemeinsamen Steuerberater verlassen – und er musikalisch einiges aufzuholen. Mit einem dermaßen ebenbürtigen Laute-Musik-Kontrahenten hat er indes nicht gerechnet: Sein Nachbar, der Heavy-Metal-Fan. Mitte dreißig, also 20 Jahre jünger als er. Könnte sein Sohn sein, trägt eine Vokuhila-Frisur wie die Bundesliga-Fußballer in den 80ern, sieht im Gesicht aus wie einst Günther Thiele alias „Schädel“, Fortunas Kopfballungeheuer. Also mit Schnauzer, logisch. Dazu bevorzugt himmelblaue Torsion-Sneaker von Adidas und die blaue Cosmos-Bomberjacke von Chevignon – mit Fellkragen. Ein Style-Crossover zwischen Metalhead und Spätachtziger-Hooligan, scheinbar einer Zeitkapsel entsprungen. Dass man sich so anziehen kann! Dr. Italo-Disco ist durchaus fasziniert: Ist das ironisch gemeint? Ein Zitat, ein Statement? Derweil schaltet seine Playlist auf „Disco Band“ von Scotch um, und der Husten-Loop ertönt. Fürwahr, eines der Highlights des Genres.

Ulf Zimmermann alias Dr. Italo-Disco kennt sonst niemanden, der den – wie er findet – verkanntesten aller Musikstile feiert. Unverständlich, denn immerhin hat die Italo-Disco-Welle die Pet Shop Boys, New Order und Madonna erreicht und beeinflusst. Okay, in Düsseldorf rühmen Musik-Auskenner nicht zu Unrecht die Gruppe Kraftwerk als Urväter der elektronischen Szene, aber wenn man ihn fragt: Da gab es noch eine prägende Zwischenstation, schließlich hätte es House und Techno ohne Italo Disco nie gegeben. Aber ihn fragt ja keiner.

Dabei weiß er genau, wie das war damals: Als der Sound aus Italien erst die Diskotheken und dann die Hitparaden dominiert, ist er gerade dabei, den Führerschein zu machen. Synthie-Beats und 4/4-Takt und Ohrwurmrefrains – ohne Angst vor Kitsch, aber eben nicht so kitschig wie Schlager: Das ist neu und attraktiv, und es klingt nach Rimini und Strand und Meer und Urlaub. Italo Disco ist nicht auf Italien beschränkt, Italo Disco bestimmt in den Achtzigern europaweit die Hitparaden: Da gibt es zum Beispiel zwei Italiener, die nicht (wie die meisten) auf Englisch, sondern auf Spanisch singen und einen Welthit über radioaktiv verseuchte Strände landen (Righeira: „Vamos a la Playa“). Auch noch erwähnen könnte man einen weiteren Italiener, der (wie sich später herausstellt) lediglich die Lippen zum Playback bewegt, dafür aber modelmäßig aussieht und einen anglophonen Künstlernamen trägt (Den Harrow). Außerdem ist da noch dieser Engländer, der mitten im kalten Krieg die russischen Frauen hochleben lässt (Eddy Huntington: „U.S.S.R.“). Nicht zu vergessen: ein Deutscher namens Uwe-Michael Wischhoff, der sich Mike Mareen nennt und als „Love Spy“ die Charts infiltriert.

Gerade die Platten aus der zweiten und dritten Reihe sind gar nicht so einfach zu bekommen. Ulf Zimmermann wird zum Jäger und Sammler, besucht DJ-Läden in ganz NRW, legt selbst auf. Erst auf Abi-Feten, dann auf Uni-Partys. Ein Studienkollege verpasst ihm das passende Pseudonym: Dr. Italo-Disco. Motto: „Doppelnachnamen sind doch jetzt modern.“ Dann wird Italo Disco allmählich von Hip House und Euro Dance verdrängt: Und als Modern Talking 1988 mit „You’re My Heart, you’re My Soul“ ihren ersten Nummer-Eins-Hit haben, beendet Dr. Italo-Disco seine öffentliche DJ-Karriere – studiert Informatik zu Ende und legt nur noch zu Hause auf.

2019: Das vorweihnachtliche Laute-Musik-Duell zwischen Dr. Italo-Disco und seinem Nachbarn geht weiter. Auf Gazebos „I Like Chopin” folgt Ryan Paris: „We‘re walking like in a dolce vita / This time we got it right”. Aus der Heavy-Metal-Wohnung schallt der Kontrast: „Breaking The Law“ von Judas Priest. Wie sein Nachbar wohl drauf ist, abseits der Musik? Tatsächlich hat er ihn erst drei oder vier Mal gesehen, weiß nichts über ihn – nicht mal, wie er mit Vornamen heißt. Jedenfalls: Dass ein junger Mann einen Oberlippenbart ohne Ironie trägt – das kann doch gar nicht sein. Das gibt es heutzutage vielleicht noch im bayerischen Wald oder in der sächsischen Schweiz. Aber nicht in Düsseldorf, nicht in der Großstadt. Ist das womöglich doch einer dieser Hipster? Hören Hipster Heavy-Metal? Früher war das einfacher, denkt Dr. Italo-Disco. Da warst du Waver oder Punker oder Skater oder Heavy oder in der Jungen Union – und jeder wusste Bescheid und konnte sich seinen Teil denken. Heute gibt es Metallica-Shirts für 9,99 Euro bei H&M, heute kann jeder alles sein, aber kaum einer ist etwas voll und ganz, und viele sind entweder ahnungslos oder halten sich für alle Fälle den Ironie-Notausgang offen. Die neue Unübersichtlichkeit, die neue Eintönigkeit.

Am nächsten Tag trifft Dr. Italo-Disco zum ersten Mal auf die Nachbarin aus der Erdgeschosswohnung: Circa 20 Jahre älter als er, praktische Kurzhaarfrisur. Typ: pensionierte Oberstudienrätin. Gerne mit Jutebeutel vom Biomarkt unterwegs. Funktionskleidung-Fetischistin zwischen Mammut und Jack Wolfskin. Stets auf schlechtes Wetter vorbereitet. Ein Alltag in Wanderschuhen. Was die wohl über uns denkt?, denkt er und wundert sich im selben Moment: Hat er gerade wirklich „uns“ gedacht? Der Metal-Fan und der Italo-Disco-Fan in einem Team. Die generationsübergreifenden Ruhestörer aus dem ersten Stock. „Entschuldigen Sie“, beginnt er und fährt sich dabei durch seine für einen 55-Jährigen erstaunlich vollen und langen Haare, „wenn die Musik mal etwas laut ist.“ „Ach, das macht doch nichts“, sagt sie. „Ich gehe sowieso immer spät ins Bett und höre auch nicht mehr so gut.“ Sie streckt ihm die Hand hin: „Hallo erst mal, ich bin die Gudrun.“ Dr. Italo-Disco lächelt, peinlich berührt, dass er – der Neue im Haus – sich nicht vorgestellt hat: „Also, ja, äh, ich bin Ulf.“

Eine Viertelstunde später stehen sie immer noch im Hausflur und unterhalten sich. Erst: Ratten im Keller, Müll vor der Tür, Feuermelder kaputt, Hausverwaltung tut nichts, die große Wohnung im 2. OG wird neu vermietet. Dann: Gewürze und Mittelmeer. Seine Nachbarin pflegt nämlich einen mediterranen Garten. Von seinem Balkon aus hat er ihn täglich im Blick. Mediterraner geht nicht – zumindest in Bilk: Überall Terracotta-Töpfe mit Gewürzen und Bambus und Olivenbäumen, die sie mit Folien fürs Überwintern vorbereitet hat. Und auch in den Beeten finden sich Rosmarinstauden – so üppig, dass Dr. Italo-Disco sich schon auf den Frühling freut. „Dann riecht es hier sicher wie auf Formentera“, sagt er – und erfährt, dass Gudrun mal für ein Jahr in Es Pujols gelebt hat – auf der Insel, die er aus den Urlauben seiner Kindheit kennt. Jetzt fahren beide nicht mehr hin: „Zu teuer geworden.“ Und dann fallen die Namen von weiteren Formentera-Gewürzen: Thymian und Majoran, die laut Gudrun anders als Rosmarin keine „Frosttoleranz“ haben. Schließlich sagt sie: „Der Steffen, dein Nachbar, der hört ja gern Metall.“ „Ach, Steffen heißt der?“, sagt Dr. Italo-Disco – und freut sich innerlich: Rosmarin-Gudrun und Metall-Steffen. Wie großartig! „Was ist das eigentlich für eine Musik, die du immer hörst?“, fragt sie. „Italo Disco“, sagt er und bekommt zum Abschied eine selbstgezüchtete Gewürzmischung geschenkt.

Baltimora, Scotch und Radiorama gehörten zu den wichtigsten Italo-Disco-Vertretern.

Foto: Sebastian Brück

Ein paar Tage später sitzt Dr. Italo-Disco neben Metall-Steffen in Rosmarin-Gudruns nach Balearen riechender Wohnung auf dem Sofa, eingerahmt von dezent weihnachtlicher Deko. Ein Drei-Generationen-Treffen aus besonderem Anlass. Inzwischen hat sich bei weiteren Hausflur-Begegnungen herausgestellt, dass alle drei Fortuna Düsseldorf anhängen. Dr. Italo-Disco war in den Achtzigern Stammgast im Rheinstadion, stets gemeinsam mit zwei guten Freunden, Stehplatz, Block 37. Nach der Heirat hat Dr. Italo-Disco ein Vierteljahrhundert lang Freundschaften vernachlässigt, sich auf seine Ehe, seinen Sohn und den Job fixiert. Seine Frau konnte mit Fußball nichts anfangen, und die alten Fußballfreunde sind längst weggezogen. Nun ist er allein, alles hat sich gedreht, wie schnell das gehen kann. Sein Sohn, der gerade ein Semester in den USA studiert und dort auch über Weihnachten bleibt, schreibt ihm regelmäßig: Papa, du musst unter Menschen! Die neuen Nachbarn sind zwar ein bisschen komisch, denkt Dr. Italo-Disco, aber ganz normal bin ich ja auch nicht. Er wundert sich immer noch, wie spontan er Rosmarin-Gudrun zugesagt hat: „Am Sonntag spielt Fortuna gegen Union Berlin, lass uns doch gemeinsam mit Steffen bei mir zum Fußballgucken treffen.“

Metall-Steffen ist zurückhaltender und leiser als sein exzentrischer Stil vermuten lässt. Dr. Italo-Disco bricht das Eis durch sein Heavy-Metal-Halbwissen: Er wirf die Namen von international erfolgreichen Bands aus NRW in den Raum, die ihm in den vergangenen Jahrzehnten aufgefallen sind. Kreator aus Essen, Sodom aus Gelsenkirchen, Blind Guardian aus Krefeld. Metall-Steffen freut sich. Bierchen, Prost, läuft. Es ist 15.21 Uhr, gleich geht das Spiel los. Wichtig für den Klassenerhalt. Rosmarin-Gudrun schaltet den Fernseher ein. „Wie lang hast du dein Sky-Abo denn schon?“, fragt Dr. Italo-Disco. „Oder hast du nur dieses eine Spiel gebucht?“ Metall-Steffen grinst, und als er Rosmarin-Gudruns Antwort hört, weiß Dr. Italo-Disco warum: „Ich habe gar kein Sky.“ Sie lächelt. „Der Steffen und ich – wir gucken vor Weihnachten immer die alten Klassiker.“ „Also komplett, 90 Minuten“, ergänzt Metall-Steffen. „Die DFB-Pokalsiege von 79 und 80 haben wir schon durch.“ „Ist schon so eine Art Weihnachtstradition bei uns“, sagt Rosmarin-Gudrun und ruft YouTube auf ihrem Smart-TV auf. „Bei uns“ wiederholt Dr. Italo-Disco innerlich und richtet den Blick auf den Bildschirm: Während in der Arena 15 Kilometer weiter nördlich Fortuna gegen Union Berlin kämpft, zelebriert die ungleiche Hausgemeinschaft einen der größten Tage der Vereinsgeschichte. Basel 1979, genau vierzig Jahre her: Das Finale im Europapokal der Pokalsieger. FC Barcelona gegen Fortuna Düsseldorf. Dr. Italo-Disco hat das Spiel als 14-Jähriger live im Fernsehen gesehen. Noch heute kann er die Aufstellung von Trainer Tippenhauer runterbeten: Daniel, Baltes, Zewe, Zimmermann (ab 84. Minute: Lund), Köhnen, Schmitz, Bommer, Brei (ab 25. Minute: Weikl), Thomas Allofs, Klaus Allofs, Seel.

Estrella Damm?“, sagt Dr. Italo-Disco – auf das Bierflaschen-Etikett tippend – zu Rosmarin-Gudrun und macht das Daumen-Hoch-Symbol. „Habe ich extra besorgt“, sagt Rosmarin-Gudrun und lächelt verschwörerisch. „Passt doch, wo wir ausgerechnet heute gegen Barca spielen, oder?“ Und dann klickt sie auf „Play“: Rund 10.000 Düsseldorfer Fans sind im Stadion, und auf einem Plakat ist zu lesen: „Jungens, wir sind bei euch!“ Wäre ich damals älter gewesen, wäre ich auch nach Basel gefahren, denkt Dr. Italo-Disco. Barcelona geht schon nach fünf Minuten in Führung, drei Minuten später erzielt Thomas Allofs den Ausgleich (war sein Bruder Klaus mit am Ball?). Dann hält Jörg Daniel einen Elfmeter. Dr. Italo-Disco geht voll mit. Erlebt wie die Fortuna, der Underdog, kämpft, in der zweiten Hälfte sogar das bessere Team ist. Zwischendurch fragt Metall-Steffen: „Bist du eigentlich mit Gerd Zimmermann verwandt?“ Dr. Italo-Disco schüttelt den Kopf: „Nein, aber so einen könnten wir heute auch gebrauchen.“ „Aus 35 Metern einfach mal draufhalten“, bekräftigt Metall-Steffen. „Zimbo haben wir den damals genannt“, sagt Dr. Italo-Disco. „Zimmermann und Bomber.“ Und dann gelingt Wolfgang Seel das 2:2, und die beiden jubeln, und Rosmarin-Gudrun schreit „Supi!“

Verlängerung. Barcelona geht in Führung. Die Düsseldorfer rennen an – und kassieren kurz darauf das 4:2 durch Barcelonas Österreicher Krankl. Meine Nachbarn sind seriöse Fußball-zu-Hause-Gucker, denkt Dr. Italo-Disco, der inzwischen die vierte Flasche Estrella aufgemacht hat. Kein unnötiges Gelaber, keine Klugscheißer-Analysen, das Spiel steht im Mittelpunkt. Trotzdem fast surreal, das Ganze: Er sitzt hier mit zwei Menschen auf dem Sofa, die über ihn genauso wenig wissen, wie er über sie. Beruf, Beziehungen, Vergangenheit – ein blinder Fleck. In der 114. Minute schafft Wolfgang Seel in Basel den Anschlusstreffer. 3:4. Die drei Fortuna-Fans in der Bilker Altbauwohnung stehen auf und klatschen sich ab. Der TV-Kommentator sagt: „Es sind noch gut vier Minuten, bei dieser Fortuna ist alles möglich.“ Und Dr. Italo-Disco, Rosmarin-Gudrun und Metall-Steffen feiern Fortuna-Weihnachten. Wie das aktuelle Heimspiel gegen Union Berlin ausgegangen ist? Spielt gerade keine Rolle. 1979 ist 2019, und in zwei Tagen ist Heiligabend. duessel-flaneur.de