Kolumne Gedrehtes Ypsilon als Düsseldorf-Wahrzeichen
Düsseldorf · Ein Loblied auf die Fleher Brücke, das mit Superlativen protzt und gleichzeitig ohne die Wörter „Stau“, „Abgase“, „Lärm“ auskommt? Das ist unmöglich. Wir versuchen es trotzdem, einen Unter-der-Brücke-Spaziergang am Neusser Rhein-Ufer inklusive.
Kaum Autos auf der Fleher Brücke. Man könnte fast sagen: Auf dem Rhein darunter und auf dem Rad- und Fußgängerstreifen am Rand herrscht mehr Verkehr als auf den sechs Fahrspuren. Das ist keine Satire, das war wirklich mal so: Von der Eröffnung Ende 1979 bis Mitte der Achtziger fehlte der A46 noch der Anschluss an die A57 zwischen Köln und Krefeld, und schnell kam der Spitzname „Fahrradbrücke“ auf. Danach stieg die Zahl der Autos und Lkw rapide an, auch begünstigt durch den Uni-Tunnel (Freigabe ab 1983). Heutzutage geht es in Fleher-Brücke-Artikeln um die immer gleichen Fleher-Brücke-Themen: Welche Fahrspur in welcher Fahrtrichtung wann gesperrt ist, an welchen Tagen Verkehrschaos droht, was an der Brücke marode ist – und so weiter.
Zum „Ausgleich“ möchten mein bester Freund P. und ich eine positive Geschichte über die Problem-Brücke erzählen. Die „Mission“: ein neues „Gefühl“ für das Bauwerk bekommen, das im Düsseldorfer Süden die Stadt schon von Weitem ankündigt. Es zu Fuß überqueren und sich dabei möglichst wenig (am liebsten gar nicht) um Stau, Lärm und Abgase kümmern. Klar, das könnte schwer bis unmöglich werden, aber ein Versuch ist es wert. Die Geste zählt: Schließlich wird die Fleher Brücke im November 2019 vierzig Jahre alt, da kann sie ein paar positive Schwingungen gut vertragen.
An diesem nasskalten Donnerstagmittag im Februar sind mein Begleiter und ich ausnahmsweise von Anfang an einer Meinung: In unseren Augen ist die imposante Verbindung zwischen Düsseldorf-Flehe und Neuss-Uedesheim/Grimmlinghausen die schönste der Stadt. Quasi: das langbeinige Topmodel unter Düsseldorfs Rheinbrücken. Ein Architektur-Highlight, Superlative inklusive: Mit 146,47 Metern hat die Fleher Brücke nicht nur den höchsten Brückenpylon Deutschlands, sondern mit 368 Metern auch noch die größte Spannweite aller Schrägseilbrücken der Republik. Überdies ist sie 1166 Meter lang, knapp 42 Meter breit und überquert den Rhein nicht, wie üblich, im rechten Winkel, sondern schräg – dem bewaldeten Wasserschutzgebiet rund um das Wasserwerk Flehe zuliebe. Von Weitem: Ein auf den Kopf gedrehtes Ypsilon, allein auf weiter Flur, abgekoppelt von der „richtigen“, der innerstädtischen Skyline. Unübersehbar, als würde es die Stadtgrenze bewachen.
Ob unsere Sympathie für die ungeliebte Cousine der Düsseldorfer Brückenfamilie dem Praxistest standhält? Zu Fuß, ohne Staugefahr, starten wir am Fleher Deich, werfen einen Blick auf die Street-Art-Verzierungen an der Brückenunterführung, spazieren danach den zickzack verlaufenden Weg nach oben. Dort angekommen geht es schnurgerade weiter: auf einer Spazier- und Radfahrspur, parallel zu den Autospuren, von denen die rechte gesperrt ist. Ein Schild weist auf „Arbeiten unter der Brücke“ hin. „Wann warst du denn eigentlich zum letzten Mal ohne Auto hier?“, frage ich meinen besten Freund P., als wir die ersten 200 Meter hinter uns haben und uns langsam den roten Brückenabspannungen nähern.
„Auf einer Radtour, in den Neunzigern“, sagt mein zwischenzeitlich nach Berlin verzogener Begleiter und hält sich theatralisch-naserümpfend die Ohren zu. „Wie laut das hier ist, habe ich damals aber gar nicht gemerkt. Ich wollte einfach nur schnell auf die andere Seite.“
„Lärm und Abgase am Rande einer Autobahnbrücke – das ist zu offensichtlich, das lassen wir weg in der Kolumne“, sage ich.
„Wie bitte?“, fragt mein bester Freund P., als habe er mich nicht verstanden. Und dann dreht er sich um, blickt zurück: „Wir könnten erwähnen, dass man von hier aus nicht nur den Rheinturm, sondern auch die Spitzen von Oberkasseler Brücke und Kniebrücke am Horizont sehen kann.“
„Nee, das lassen wir auch weg“, sage ich. „Die Rheinbrücken im Zentrum bekommen schon genug Aufmerksamkeit. Während die sich im Glanz der Innenstadt sonnen, steht die arme Fleher Brücke …“
„… im Abseits“, fällt P. mir ins Wort. „Na, dann müssen eben wir den Job als Fleher-Brücke-Lobbyisten übernehmen.“
Kurz darauf haben wir den Über-dem-Rhein-Teil der Fleher Brücke hinter uns gelassen, sind auf Neusser Gebiet. Wir starren nach oben – auf die sich hundert Meter über uns vereinigenden Stiele des Brücken-Pylons. Während P. mit dem Smartphone ein Foto von einem auf die Lärmschutzwand gesprayten Street-Art-Hündchen schießt, beginne ich, ihm meine ganz persönliche Fleher-Brücke-Geschichte zu erzählen: Wie mir das langsam aber sicher in den Himmel wachsende Brücken-Skelett Ende der Siebziger zum ersten Mal aufgefallen ist, als Grundschulkind auf einer Familien-Radtour – ausgerechnet von der Autofähre zwischen Düsseldorf-Himmelgeist und Neuss-Uedesheim aus, die nach der Brücken-Eröffnung ausgemustert wurde. Und wie ich in der ersten Hälfte der Neunziger, als nebenjobbender Student regelmäßig freitag- oder samstagmorgens mit dem Fahrrad über die Fleher Brücke nach Uedesheim gefahren bin, um dort als Lagerist im Gewerbegebiet Software und Bücher von Data Becker in Pakete zu packen.
Die Fleher-Brücke-Geschichte meines besten Freundes spielt zu einer anderen Zeit, und er möchte sie mir erst erzählen, wenn wir ihren Schauplatz erreichen: „Am Rhein!“
An einer T-Gabelung verlassen wir die Brücke und spazieren in nun entgegengesetzter Richtung unter der Fahrbahn flusswärts, flankiert vom Naturschutzgebiet Uedesheimer Rheinbogen. Auf den Feldern nebenan lauert ein Graureiher auf Beute, ein Nilgänse-Pärchen watschelt im Gleichschritt. Und der gerade noch so dominierende Verkehr erscheint plötzlich weit entfernt, dringt nur dumpf durch den Beton. Menschen sehen wir keine. Tatsächlich sind wir seit dem Beginn des Spaziergangs in Flehe niemanden begegnet.
Die Brückenbeine sind mit Straßenkunst und Sprüchen verziert: „Leon hat Jona lieb. Bin Boss.“ Außerdem stehen hier und da landwirtschaftliche Gefährte und Geräte, die den Regenschutz unter der Brücke genießen. Eine fast unwirkliche Stimmung: Einsamkeit vs. Autobahnverkehr, Beton-Symmetrie vs. Naturschutzgebiet.
„Wenn es im Fernsehen jemals wieder einen Düsseldorf-Tatort geben sollte“, sagt P., „werden die Location-Scouts ganz sicher hier unter der Brücke eine Leiche platzieren.“
„Wäre ich Location-Scout würde ich auch noch den Rhein mit ins Bild nehmen“, entgegne ich.
Wir einigen uns auf „Angespülte Wasserleiche, am Ufer unter der Brücke, möglichst mit Graffiti im Hintergrund“ und lassen das erhöht liegende Wasserwerk Rheinbogen mit seinem bauernhofähnlichen Gebäude, das bei Hochwasser zur Insel wird, rechts liegen. Und dann erreichen wir die beiden Pylon-Stiele, die nur wenige Meter vom Wasser entfernt wie Riesenroboterfüße auf dem Boden stehen. Zeit für P.s Fleher-Brücke-Geschichte: Sie spielt 1985 oder 1986, und mein heutiger Begleiter ist damals 15 oder 16 Jahre alt und feiert genau dort, wo wir in diesem Moment stehen, mit seiner Clique. Drei oder vier Mal läuft das so, im Sommer, abends an den Wochenenden. Bis zu hundert Leute aus verschiedenen Düsseldorfer Schulen reisen mit Fahrrädern oder Vespas an, sitzen oder stehen rund um die Pylon-Stiele: Es gibt volle Bierflaschen, die in Rucksäcken mitgebracht werden. Es gibt leere Bierflaschen, die in den Rhein fliegen. Es gibt Lagerfeuer und Ghettoblaster. Es gibt Betrunkene und Nüchterne. Es gibt alberne Gespräche. Es gibt existenziell-romantische Gespräche. Es gibt Paare, die sich küssen. Und wenn es schlecht läuft, gibt es ein Polizeiboot, das langsam vorbeituckert und Ordnungsamtleuten Bescheid sagt, die kurz darauf die Party beenden. Fotos, die diesen Fleher-Brücken-Partysommer belegen, gibt es keine – nur Erinnerungen, die mühsam wachgerufen werden müssen. Das Privileg einer Jugend ohne Smartphones. Mein an der Midlife-Crisis kratzender Freund P. glaubt übrigens, eine unfotografierte Fleher-Brücke-Knutschpartnerin vor einigen Wochen im Supermarkt wieder gesehen zu haben, ist sich aber nicht sicher: „Ist ja schon mehr als dreißig Jahre her!“
Für den Rückweg wechseln wir auf die andere Brückenseite, spazieren also erneut in Fahrtrichtung. Während uns ein Radfahrer überholt und sich unter uns die Rheinschiffe „Formentera“ und „Hannelore“ begegnen, ist mein bester Freund P. bereits in Fazit-Stimmung. Die Fleher Brücke sei als Düsseldorf-Wahrzeichen vollkommen unterbewertet: Ein Architekturdenkmal, ein Tor zur Stadt und mit den roten Seitenstreifen auf den Pylon-Stielen und den die Brücke haltenden roten Stahlseilen ein fast extravaganter Blickfang. „Jedes Mal, wenn ich während meiner Berlin-Zeit mit dem Auto zurück nach Düsseldorf gefahren bin, hat mich die Fleher Brücke begrüßt“, sagt mein sonst wenig sentimentaler Co-Flaneur. „Sobald ich sie auf der A46 von Wuppertal kommend am Horizont erblickt habe, fühlte ich mich zuhause.“
In diesem Sinne beenden wir voller Fleher-Brücke-Sympathie unseren Spaziergang – und verabschieden uns mit einem dazu passenden „Forderungs“-Katalog:
1. Die Fleher Brücke kann nichts dafür, dass sie nicht für den heutigen Verkehr gemacht ist. Seid nett zu ihr und verzichtet auf „Dort ist immer Stau“-Kommentare unter der Online-Version dieser Kolumne. Schärft lieber euren Fern-Blick, denn die Fleher Brücke ist von weit mehr Orten in- und außerhalb Düsseldorfs zu sehen, als euch bewusst ist – zum Beispiel, wenn man auf der Kasernen- und Elisabethstraße Richtung Bilk fährt.
2. Besucht die Fleher Brücke zu Fuß oder mit dem Fahrrad, entdeckt die umliegende Natur in Uedesheim und Grimmlinghausen auf der Neusser Rheinseite. Und: Macht einen Unter-der-Brücke-Spaziergang.
3. Am 3. November 2019 wird die Fleher Brücke 40 Jahre alt. Vergesst nicht, sie durch ein Fleher-Brücke-Fest zu ehren.
4. Würdigt die Fleher Brücke als Düsseldorf-Wahrzeichen und sorgt dafür, dass sie auf Shirts, Bechern, Buttons, Mützen, Jute-Beuteln und Frühstücksbrettchen zu haben ist – immer nur Rhein- und Schlossturm plus Rheinkniebrücke ist langweilig.
5. Kauft in diesem Sinne das eigens für diesen Text designte und garantiert rheinturmfreie T-Shirt mit Fleher-Brücke-Logo. Es ist aus Bio-Baumwolle, wird in einer T-Shirt-Manufaktur in Flehe von weit über Mindestlohn bezahlten Fachkräften produziert und kostet nur 24,90 Euro. Die ersten 50 Besteller erhalten als Gratis-Bonus einen „Lärmschutz-Kopfhörer“, um ungestört von einer Rheinseite auf die andere flanieren zu können.
6. Vergesst Punkt 5 – aber beherzigt den Rest. Denn der ist ernst gemeint. Zumindest zu 90 Prozent …