Reportage Düsseldorfer Großmarkt-Urgestein Willi Andree feiert 83. Geburtstag
Düsseldorf · Mit 83-Jahren geht der Gemüsegroßhändler Willi Andree immer noch tagtäglich seiner Arbeit nach. Ein Ende ist nicht in Sicht.
An einem Juli-Tag im Jahr 2007 liegt Willi Andree verletzt und bewegungsunfähig bei einem seiner Lieferanten in Straelen in der Hofeinfahrt. Beim Verrücken der Paletten im Lkw reißt ein Klebeband, der 71-Jährige fällt rücklings vom Laster. Mit dem Hinterkopf schlägt er auf den Schotterboden auf. „Das ist das Ende“, dachte Andree. Er betreibt damals den größten Gemüsestand am Großmarkt Derendorf.
23. November 2018, 4:30 Uhr: Nach der Stoßzeit in der Halle Acht sitzt Andree an seinem Schreibtisch und quittiert die Rechnungen. Es ist sein 83. Geburtstag. „Die Schicht kann lang sein, Montag bis Samstag von Mitternacht bis acht Uhr morgens“, sagt der 83-Jährige und steht auf, wankt zum Fenster und spricht die Person an, die dort gerade vorbeigeht: „Hör ma’ Kollege, eine Kundin hat vorhin angerufen. Holst du bitte eine Kiste Pommes? Aber vergiss nicht, zu essen, nimm dir was von der Gulaschsuppe, draußen vor’m Büro.“
Familie hat Vorrang, das „Kind“ sein wird hinten angestellt.
Als zukünftiger Bauernhofbesitzer wird Andree am 23.November 1935 die Landwirtschaft buchstäblich in die Wiege gelegt. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges werden alle vier Hofhäuser komplett zerbombt. Die Existenz seiner Familie liegt in Schutt und Asche. Nach dem Tod seines Vaters 1948 verlässt Andree die Schule mit zwölf Jahren, um den Betrieb gemeinsam mit der Familie wieder aufzubauen. Er bleibt ohne Schulabschluss.
„Wir mussten als Familie zusammenhalten, sagt Andree mit gedämpfter Stimme. Bis 1961 führt die Familie gemeinsam den Hof. Dann übernimmt Andree den Betrieb und zahlt seine jüngeren Familienmitglieder aus. „Die ersten zehn Saisons fuhr ich noch dazu im Winter jedes Wochenende mit zu meinem Freund nach Schleswig-Holstein, um Weiß- und Rotkohl zu holen. Hier mit meinem 40-Tonner“, sagt er euphorisch und deutet mit seiner flachen Hand auf das weiß umrahmte Bild hinter ihm in seinem Büro, einem hüttenähnlichen, dunkelbraunen Holzverschlag inmitten der Halle 8 des Großmarktes. Daneben hängt ein kleines Banner mit der Aufschrift: „Der Gemüsemeister“, sein Spitzname unter den Händlern, wie er erzählt. Sein Haupt ziert schneeweißes, volles Haar und über seinen tiefliegenden Augen stechen die buschigen Brauen sofort heraus. „Im Inneren ist Papa noch topfit“, erwähnt sein Junior Willi, der sich neben ihm über den Schreibtisch beugt. Seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Willi Andree zeichnet sich schon in jungen Jahren als Draufgänger mit eigenem Willen und Leichtsinn ab. Ganz ohne Führerschein fährt er als Kind mit dem Traktor durch Bilk und später als Hofherr — nach dem Tod seines Vaters — zu den Gemüseversteigerungen des Großmarktes. Erwischt wurde er jedoch nie.
Seinen Lebenssinn widmet Andree seinem Gemüsebetrieb, den er – obwohl er zur Jahrtausendwende 95 Prozent an seinen Junior überschrieb — bis zum 70. Lebensjahr mit 43 Mitarbeitern nahezu eigenständig führt. Bis zum Tag seines Unfalls in Straelen:
Andree liegt in der Einfahrt des Hofes. Der damals 71-Jährige bleibt bei Bewusstsein, ihm wird klar, wie prekär seine Lage ist. „Ich konnte nichts anderes tun, als um Hilfe zu schreien. Gott sei Dank war ich darin trainiert, durch den oftmals lauten Umgangston bei uns in der Markthalle“, sagt er wild gestikulierend auf dem Stuhl in seinem Büro. Seine Stirn legt sich in Falten.
Am Ort des Unfalls springt sein Hund aus dem Lkw, läuft auf den am Boden liegenden Mann zu und setzt sich auf seine Brust. Andree zeigt auf das Bild an der Fotowand. Der Hund war sein letztes Tier, einer von zehn kleinen Dackeln. Alle mit dem Namen „Purzel“.
Durch seine Hilfeschreie kommt der 7-jährige Sohn des Lieferanten angerannt und beginnt, ihm aufzuhelfen. Doch der Mann entgegnet dem Jungen energisch: „Stop! Bevor du den Dackel von mir nimmst, hol’ meine Jacke vom Vordersitz und wickel den Purzel damit ein.“ „Okay“, sagt der Junge. Als Andree von dieser Situation erzählt, beginnt sein Daumen nervös hin und her zu wippen. Er streicht mit ihm immer und immer wieder über seine Handfläche und erklärt trocken, als würde er als Experte die Situation seines früheren Ichs kommentieren: „Der hätte den Jungen sonst gebissen. Durch die Jacke schnüffelte er einen gewohnten Geruch und blieb zahm.“ Nach erfolgreicher Rettung erfolgte die Diagnose im Krankenhaus: Zwei Wirbel waren gebrochen. Bleibende Schäden. Bis heute kann Andree seinen Kopf nicht nach hinten lehnen, was dazu führt, dass es ihm seit ihm diesem Tag nicht mehr möglich ist, zu schwimmen.
Nach dem Unfall beendet Andree die Fahrten mit dem Lkw
Von diesem Punkt an beschließt der 71-Jährige, die eigenen Fahrten mit dem Lkw zu beenden. Sein Sohn — der sich zu diesem Zeitpunkt in der Ausbildung befand — reagiert, bricht nach drei Monaten seine Lehre ab und kommt zurück zum Betrieb seines Vaters, um Andree die Entscheidung abzunehmen, wie es mit dem Hof weiter gehen soll.
23. November, 6:39 Uhr: Die Klinke seiner Bürotür wird heruntergedrückt. „Klopf, Klopf“, sagt Gerda Münchehofe, die aktuelle Lebensgefährtin des 83-Jährigen fröhlich und tritt herein. „Alles, alles Gute zum Geburtstag.“ Beide fallen sich in die Arme. „Gerda, meine Liebe! Das freut mich aber“, entgegnet der Gemüsemeister fidel und reicht ihr einen Teller voller Kekse. „Komm, nimm dir etwas zu essen.“
Zehn Minuten später sitzen die fünf Jahre alte Carla und der 7-jährige Liam, zwei der drei Enkel von Andree, auf seinem Schoß. Je ein Kind auf einem Oberschenkel. Der Dritte, Theo, gut zwei Jahre alt, nascht unterdessen an den Keksen. Der stolze Großvater versucht, sich eine Träne zu verkneifen. Vergebens. Aus seinen glasigen Augen kullert ein Ausdruck der Freude herab.
Um 7:25 Uhr steht auch Oberbürgermeister Thomas Geisel im Büro, gratuliert dem 83-Jährigen persönlich und überreicht dem Fan des Düsseldorfer Fußballclubs den passenden Fortuna Wein.
„Die letzten Jahre hatte ich schon die einen oder anderen Wehwehchen. Aber natürlich fühle ich mich nach all dem Ganzen noch fit, jetzt habe ich ja einen Herzschrittmacher.“, entgegnet er selbstsicher auf die Frage, wann er sich komplett aus seinem Betrieb zurückzieht. Wenn es nach ihm ginge, macht er das mindestens noch zehn weitere Jahre.