Düsseldorf Die erste Reihe — geliebt und verpönt
Früher war es eine Prestigesache, im Theater oder in der Oper in der ersten Reihe zu sitzen. Heute sind die Gründe für die Platzwahl eher praktisch.
Düsseldorf. Wenn Theater, dann nur in der ersten Reihe? „Bloß nicht“, ruft die kunstinteressierte Schauspielhaus-Abonnentin Regine Z. Da müsse man ja, wenn der Regisseur schlecht geschlafen und eine Schnapsidee hat, „sogar noch mitmachen“. Anders die Erfahrung, die Bernd Franken seit 30 Jahren an der Kasse der Komödie gemacht hat: „Es gibt Besucherinnen, die extra lange vor Saisonbeginn ein Abo buchen, um immer in der ersten Reihe sitzen zu können. Egal, was das kostet.“
Das gelte nicht nur für die berühmte, vor einigen Tagen verstorbene Corry Feltz, die jahrzehntelang stets die erste Reihe gebucht hatte. Ebenso für das bebrillte Herren-Duo Jürgen und Fred, das knapp 40 Jahre von dort aus die Inszenierungen mit strengen Blicken begutachtete. Begehrt war damals erste Reihe, Mitte.
Ist es ein Spleen, die Schweißtropfen der Mimen zu inhalieren oder einem Star, den man aus dem Fernsehen kennt, möglichst auf Tuchfühlung zu kommen? „An ihm oder ihr und am Geschehen dran zu sein, jedes Augenzucken, jede Lachfalte zu erspähen“, wie Erste-Reihe-Freaks, die ihren Namen nicht preisgeben, zugeben. Gehören sie zu einer aussterbenden Spezies? Oder was ist dran am Nimbus der ersten Reihe?
Heute ist in Musentempeln manches anders als im vollbesetzten Flugzeug gen Süden. Da will jeder in die erste Reihe, aus praktischen Gründen: Man ist als erster wieder draußen. Bei Ballett- oder Opernaufführungen indes ist es unter Kennern verpönt, die ersten Reihen zu buchen. Es sei denn, man möchte nur auf die Füße, Beine oder das Gesäß der Tänzer schauen. Soll’s ja auch geben. Aber der Blick auf die Choreographie und das Gesamtkunstwerk ist nur aus den mittleren Reihen möglich, noch besser im ersten Rang. Und im Kino? Dort kosten „Rasiersitze“ (in der ersten Reihe) am wenigsten. Bei langen Filmen droht dort Genickstarre.
Sehen und gesehen werden. Das galt fast ein Jahrhundert lang. Prestige zählte, weniger das Interesse an der hehren Kunst. Traditionsgemäß saßen auf den teuren Plätzen Adelige, später das diplomatische Corps, das besonders betuchte Publikum, Berufs-Politiker wie Dezernenten und Oberbürgermeister und andere Honoratioren. Das erzählt Roland Büdenbender. Der Leiter des Besucher-Service im Schauspielhaus erklärt: „Die Tradition galt bis zur Intendanz von Anna Badora.“ Erst die Nachfolgerin Amelie Niermeyer führte ab 2006 ein Donatoren-System ein: Finanzkräftige Theaterfans erwarben Patenschaften für Stühle in den ersten Reihen, auf deren Rückseiten die Namen der Spender auf einer Plakette eingraviert wurden.
Und wenn Promis auftauchen? Da gibt’s Unterschiede, so Franken. „Während Harald Schmidt schon 45 Minuten vor Beginn Hof hält und das Fan-Bad genießt, bleibt Hape Kerkeling anonym, huscht erst rein, wenn’s dunkel wird und nimmt auch einen Klappstuhl in Kauf.“
Heute bevorzugen viele aus Sichtgründen Mittelplätze ab der Reihe neun. Dort ist man sicher, nicht nur vor Mitmach-Theater, sondern auch vor plötzlichen Wasser-Spritzern oder vor unvorhergesehenen Zwischenfällen auf der Bühne. Andere Erfahrungen machte Bernd Franken von der Komödie: „Großgewachsene bevorzugen die erste Reihe wegen der Beinfreiheit, Kleingewachsene sind dort sicher, dass sie keinen Sitzriesen vor der Nase haben.“
„Bei uns sitzen Sie in der ersten Reihe“ — dieser TV-Slogan ist seit langem passé, besonders im Sprechtheater, berichtet Michael Strahl. Die Zuschauer, die meinen „Ich gehöre in die erste Reihe“ werden weniger, sagt er. Er denkt eher an Schwerhörige, die früher immer vorne sitzen mussten. Der Mediziner, seit vier Jahren Freundeskreis-Vorsitzender des Schauspielhauses, verweist auf die Hörschleifen, die erst ab Reihe sechs installiert sind. Per Telefonschaltung und Kopfhörer gelangen somit auch dramatisch leise Töne ins Ohr der Theaterbesucher. Wer zum Freundeskreis gehört, so Strahl, kann sich allerdings durch eine höhere Spende (üblich sind 320 Euro pro Jahr) einen Platz in den vorderen Reihen sichern.
Dennoch: Die Erfahrung, dass Nervensägen nicht aussterben, machen neben Stahl vor allem die Damen an der Kasse. Beim stets ausverkauften Gerichtsdrama „Terror“ beispielsweise, wisse jeder, dass es schwierig ist, an Karten zu kommen. Aber trotzdem, so erzählen sie, habe es einige gegeben, die am gleichen Tag eine Karte in der Reihe eins forderten. Mit schneidender Arroganz. Sie blätterten Scheine hin — mit dem Gedanken, sie könnten mit Geld alles machen. „Aber die meisten bleiben höflich und sagen, wir nehmen auch einen Klappstuhl“, sagt uns eine Kassiererin, die anonym bleiben möchte.