Altenpflege Ein Tag im Leben einer Düsseldorfer Altenpflegerin

Düsseldorf · Linda Kirsch arbeitet im Ferdinand-Heye-Haus als Altenpflegerin. In der „Tagesoase“ kümmert sie sich um Menschen, deren Demenz weit fortgeschritten ist und die bettlägerig sind. Für die 25-Jährige ist es ein Beruf mit sozialer Verantwortung, der medizinische Kenntnisse und sehr viel Feingefühl erfordert.

Linda Kirsch mit Stations-Mischlingshündin Leni. Die Hündin sucht die Nähe der Bewohner und liebt es, sich am Fußende der Betten einzurollen.

Foto: Ines Arnold

Linda Kirsch zählt nicht zu den Menschen, die schon von klein auf wussten, welchen Beruf sie später einmal ausüben werden. Selbst nach dem Abitur blieb sie für alles offen, spielte mit dem Gedanken, Grundschullehrerin oder Landschaftsarchitektin zu werden. Und dann wurde es doch „etwas Soziales“, das immer mit auf dem Zettel gestanden hatte. Mit ihren 25 Jahren und einem Jahr nach ihrem Abschluss als Pflegefachkraft sitzt sie am Bett einer Seniorin und reicht ihr das Essen an. Von Füttern spricht hier niemand. Und doch wird jeder Löffel Apfelmus an die Lippe der Seniorin gestupst, bevor diese den Mund öffnet und dann erneut die Augen schließt.

Die Terrassentür des Aufenthaltsraums, von dem die zehn Einzelzimmer abgehen, ist weit geöffnet. Draußen in den Blumenkästen hängen pinke und rote Geranien, innen an der Zimmerdecke viele bunte Mobiles. Die Bewohner der Tagesoase, wie die Station im Ferdinand-Heye-Haus genannt wird, sind bettlägerig, ihre Demenz ist weit fortgeschritten. Das soll sie aber nicht daran hindern, Gemeinschaft zu erleben. Mittendrin zu sein, während die Schnittchen in der Küchenzeile geschmiert werden, Gedichte und Kurzgeschichten vorgelesen oder die bei allen Bewohnern so beliebten Peter-Alexander-Lieder über die Stereoanlage abgespielt werden. Und so werden die Betten tagsüber in den Aufenthaltsraum oder auf die Terrasse geschoben, nur in der Mittagspause, in der Nacht oder wenn die Bewohner Ruhe bevorzugen, stehen die Betten in den Zimmern.

Mitarbeiter sind von Angehörigen nicht zu unterscheiden

Linda Kirsch streicht Frau Ott (alle Namen der Bewohner wurden geändert) über den Unterarm. „Wir haben es geschafft“, sagt sie dann fröhlich und stellt das Glasschälchen auf dem Beistelltisch ab. „Ui, gekleckert haben wir auch.“ Sie wischt den Klecks Apfelmus von dem grauen Kissen, das Frau Ott dicht an ihre Brust presst. Dann tastet sie sich an die geballten Fäuste der Seniorin heran, öffnet die Finger nacheinander, zieht den weißen Waschlappen heraus und legt ihre Hand stattdessen hinein. „Das sind Kontrakturen. Versteifungen der Gelenke“, erklärt sie, während sie die einzelnen Finger und die Handinnenfläche der Frau vorsichtig abtastet und ihr schließlich den Waschlappen zurück in die sich wieder schließende Faust legt.

Die 25-Jährige trägt ein weißes T-Shirt, dazu Jeans und Turnschuhe. Ihr Kollege aus der Frühschicht ist ebenfalls nicht von den Angehörigen zu unterscheiden, die an diesem Mittag neben den Betten ihrer Ehepartner sitzen, ihnen das Essen anreichen oder aus der Tageszeitung vorlesen. Herr Sauer hat seine Frau heute zum Essen mit runter ins Café genommen. In einem extra breiten Rollstuhl, in den sie mit einer elektrischen Hebehilfe umgebettet wurde. Als Frau Sauer ins Ferdinand-Heye-Haus kam, stand es schlecht um sie. Sie hatte stark abgebaut, die Organe drohten zu versagen. Davon sieht man ihr heute nichts mehr an. Die Reibekuchen im Café seien köstlich gewesen, schwärmt sie. Das Gerücht, die Menschen kämen zum Sterben hier nach oben in die Oase, hält sich dennoch hartnäckig.

Die Bewohner werden nun für die Mittagsruhe vorbereitet. Kirsch und ihr Kollege Gerd Schmidtke machen jeden Einzelnen noch einmal frisch. Gemeinsam, weil es allein körperlich oft zu anstrengend ist. Schmidtke hat 25 Jahre im Einzelhandel gearbeitet, bevor er zum Pflegehelfer umschulte. Das Konzept im Ferdinand-Heye-Haus, dass Senioren mit und ohne Demenz getrennt voneinander wohnen, befürwortet er. Auch die Ausstattung sei hier in Gerresheim bestens. Da hätte er schon ganz anderes erlebt, etwa bei seiner Schwiegermutter, die in einer anderen Einrichtung gepflegt wurde. „Da konnte man froh sein, wenn man mal eine Pflegekraft sah“, erzählt er.

Tatsächlich sind in dem erst 2014 eröffneten Haus der Diakonie am Apostelplatz aktuell alle Stellen besetzt. Die vorgegebene Fachkräftequote von 50 Prozent wird ebenfalls erfüllt. Möglich wird das auch durch Pflegekräfte aus dem Ausland, die im Haus weitergebildet wurden und das Team verstärken. Und dennoch wünscht sich Kirsch oft mehr Zeit für die Bewohner. Für die Gespräche, Frotzeleien und die Streicheleinheiten zwischendurch, die so entscheidend für das Wohlbefinden der Menschen hier seien.

Herr Winter bewegt sich kaum noch, sprechen kann er aber. „Er erzählt ganz viel, aber nur wenn er Lust dazu hat“, sagt Kirsch lächelnd, reibt ihm den Oberarm und macht ihn dann mit einigen routinierten Handgriffen bereit für das Schläfchen. In ihrem Freundeskreis bekommt Kirsch oft den Satz zu hören „Ich finde es toll, dass du das machst, aber das könnte ich nicht“. Dass die Altenpflege oft auf die Körperhygiene reduziert werde, ärgert sie. „Natürlich gehört das dazu, aber da ist noch so viel mehr“, sagt sie. Es sei ein Beruf mit großer Verantwortung, in dem man sowohl soziale und psychologische als auch medizinische Kenntnisse brauche. „Es kommt so viel zurück. Vielleicht kein lautes Danke. Aber ein Lächeln. Oder ein entspannter Gesichtsausdruck.“ Das sei unter diesen Bedingungen mindestens genau so viel Wert.

Herr Platten hat gut gegessen heute Mittag. Seine Frau ist wie so oft an seiner Seite gewesen, nun sollen die Pflegekräfte übernehmen, um ihn für die Mittagsruhe vorzubereiten. Plötzlich bricht der Mann in Tränen aus, die Beine zittern. Seine Frau steht hilflos am Fußende des Bettes. Zehn Jahre lang hat sie ihren Mann zu Hause gepflegt, seit knapp zwei Jahren ist er nun im Ferdinand-Heye-Haus, und seit genau so langer Zeit weiß ihr Ehemann nicht mehr, wer diese Frau da ist, die täglich bei ihm am Bett sitzt. Dass alles erträgt Irene Platten tapfer. Das unerklärliche Weinen aber, das nimmt sie mit nach Hause. „Das sind Momente, in denen ich normalerweise fliehe“, sagt sie und atmet schwer. Ihr Blick klebt an den gerahmten Fotos an der Wand über seinem Bett. Heinz ist dort zu sehen, die Schwester untergehakt. Daneben ein Foto seiner geliebten Mutter.

Linda Kirsch versucht den Mann zu beruhigen, streichelt ihm immer wieder über den Kopf und die Wangen, redet gut zu. Während das Wimmern leiser wird, verlässt Irene Platten das Zimmer. Sie hat eine lange Bahnfahrt vor sich. Linda Kirsch bliebt am Bett. Noch bevor die 25-Jährige das Zimmer verlässt, ist Herr Platten eingeschlafen.