Rolf Lindemann vom Landkreis Oder-Spree Gastbeitrag: Mauerfall auch aus der Sicht eines „Brückentieres“ ein Glücksfall

Meinung · Zum Mauerfall-Jubiläum hat Rolf Lindemann (SPD), Landrat des Krefelder Partner-Landkreises Kreises Oder-Spree, einen Gastbeitrag für die WZ geschrieben:

Rolf Lindemann, Landrat des Landkreises Oder-Spree.

Foto: Mario Behnke / Landkreis Oder-Spree

Den Mauerfall habe ich 1989 in Speyer an der Verwaltungshochschule mitbekommen. Wie gebannt verfolgten wir am 10. November die Fernsehbilder vom „Ausnahmezustand“ in Berlin – Menschen, die durch die Übergangsstellen hin und her fluteten. Und ich kann nicht verhehlen, dass das Glück, welches diese Bilder ausstrahlten, als Gefühl auf mich übergriff. Dass ich am 10. August des Folgejahres endgültig „rübermachen“ würde, wie ein solcher Aufenthaltswechsel zwischen Ost und West in Assoziation an die Mauer im DDR-Jargon genannt wurde, ahnte ich damals nicht.

Ich kam in eine völlig andere, als die gewohnte Welt – weniger, was die menschlichen Begegnungen anbelangt, aber was die innere Verfassung der Gesellschaft und die Fundamente des Zusammenlebens betrifft. Die revolutionäre Situation wirkte noch nach, man hatte ein ungeliebtes politisches System der Geschichte überantwortet, hatte aber keine ganz klaren Vorstellungen davon, als wie voraussetzungsreich sich der verheißene Westen darstellen sollte. Man blendete aus, wie lange es gedauert hatte, sich aus der Nachkriegssituation politisch, moralisch, ökonomisch und sozial herauszuarbeiten. Hier hat es im Rausch des Glücks über das nicht mehr für möglich gehaltene Verschwinden dieses anachronistischen Grenzsicherungssystems manche Fehlvorstellung gegeben, die auch zu bitteren Enttäuschungen geführt hat, was sich auch heute noch bemerkbar macht. Man muss sich das aus Krefelder Perspektive so vorstellen, als breche alles, was bis dato Orientierung, Halt und Motivation gegeben hatte, von einem Tag auf den anderen, weg – nicht nur die ökonomischen Fundamente wie Arbeitsstelle, Eigentum an Häusern und Grundstücken, ja selbst Mietwohnungen waren oft durch offene Vermögensfragen unsicher geworden. Nein, auch das politische Koordinatensystem und letztlich sogar die Weltanschauung im buchstäblichen Sinne, ja auch die christliche Sozialisierung, das Denken in den Kategorien dieses Glaubens, all das wäre von heute auf morgen nichts mehr wert. Das ist die Situation, der sich sehr schnell die meisten DDR-Bürger gegenüber sahen. Und das muss man auch berücksichtigen, wenn man sich heute mit Erscheinungen, wie sie bei Pegida in Dresden oder an anderer Stelle zeigen, auseinandersetzt.

Maßgeblich war für uns auf der Kreisebene die Wiederbelebung des Gedankens der kommunalen Selbstverwaltung, die ja letztlich auf der Wertgleichheit aller Menschen fußt und damit auf der Menschenwürde. Wir alle werden auch nicht als Demokraten geboren, sondern wir müssen das mühsam einüben und dazu bedarf es des Vorhandenseins geeigneter Übungsräume, Übungsgelegenheiten und dem Wachsen an Erfahrung. Deshalb war der kommunalpolitische Prozess eine lange Suchbewegung, in der erstmalig unorganisierte Bürger als Individuum die politische Bühne betraten und den Anspruch auf Mitgestaltung für sich reklamierten. Es musste auch eine Auseinandersetzung mit den örtlichen Stadthaltern des zentralistischen Systems gesucht und bestanden werden. Zu diesem Zweck versammelten sich unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte zu einem Forum, das als „Runder Tisch“ in die Geschichte einging und durch die Nachahmung auf allen staatlichen Ebenen zu einem ganz neuen politischen Instrument der Konfliktlösung und der Vermittlung wurde. Oftmals auch quasi als der erste „Täter-Opfer“-Dialog, und ich denke, das war auch das Erfolgsrezept dieser friedlichen Revolution. Deshalb unterscheidet sich die aus dieser Phase hervorgegangene politische Kultur erheblich vom westdeutschen Pendant. Die Diskussion war insbesondere am Anfang sehr viel grundsätzlicher, basisdemokratischer und unter deutlicher Inanspruchnahme von grundsätzlichen Werthaltungen wie Moral, Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Beiträge erfolgten größtenteils spontan, ohne parteitaktische Verständigung, vorbereitete Rhetorik oder große Pose.

Nicht anders war die Situation in der Verwaltung. Die Kreisebene galt 1990 als die einzige arbeitsfähige Verwaltungsebene. Durch die am 6. Mai 1990 abgehaltenen Kommunalwahlen waren vielfach neue Personen auf die politische Bühne getreten. Auch in der Kreisverwaltung in Beeskow wurde ein personeller Bruch hinsichtlich der Besetzung der leitenden Funktion herbeigeführt. Landrat und Beigeordnete waren gerade wegen ihrer bisherigen parteipolitischen Abstinenz ins Amt gewählt worden, um die früheren Funktionäre abzulösen. Das bedeutete aber, dass Laien künftig als Behördenleiter eine Verwaltung zu führen hatten, deren Mitarbeiter sich in erster Linie durch eine grundlegende Verunsicherung hinsichtlich ihres eigenen Status auszeichneten.

In dieser Zeit hat uns insbesondere das Partnerland Nordrhein-Westfalen und hier natürlich unsere neue Partnerstadt Krefeld in großartiger Weise unterstützt. Dies reichte von der Ausstattung mit Kopierern, Computern und Büchern bis zur Überlassung von Material zur Verbesserung der Ausstattung in den Krankenhäusern und Heimen. Und die wirksamste und nachhaltigste Unterstützung stellt aus meiner Sicht die Gewinnung von Pensionären der ehemaligen Krefelder Stadtverwaltung und die Abordnung von aktiven Beamten nach Beeskow dar. Denn eine solche Einheitsbildung hat auch immer eine menschlich emotionale Dimension und diese wird man nur dann transportieren können, wenn man aus eigener Erfahrung weiß, wie sich die Situation im anderen Teil Deutschlands ganz konkret für den einzelnen Menschen anfühlt.

Einen erheblichen Stellenwert nahm anfangs die Beratung der Bürger ein. Dies war auch eine ausgesprochen sinnvolle und notwendige Einrichtung, mit der es der neuen politischen Führung gelang, den Wandel des Bürger-Staat-Verhältnisses nach außen sichtbar zu machen.

Wir konnten im Dezember 2018 das 25-jährige Bestehen des Landkreises Oder-Spree festlich begehen und wir haben trotz aller Anstrengungen und Schwierigkeiten einen ausgesprochen glücklichen Rückblick auf diese 25 Jahre gewagt und können diesen Blick auch um fünf Jahre in die Vergangenheit erweitern. Und auch aus der Sicht eines deutsch-deutschen „Brückentieres“ kann ich die Ereignisse von 1989 und ’90 als großen Glücksfall bezeichnen.