Als Kempen an den Rhein sollte
Die Thomasstadt liegt nicht wirklich an dem großen Strom. Aber doch verbindet beide Einiges. Von historischen Kanalbauplänen und anderen Kuriositäten kann man berichten.
Kempen. Manch ein Tourist, der Kempen besuchte, hat sich vielleicht schon diese Frage gestellt: „Wo ist denn jetzt hier der Rhein?“ Schließlich sprechen doch viele von „Kempen am Niederrhein“. Und das ist ja auch unter anderem am Bahnhof zu lesen. Dieses touristische Missverständnis kommt dadurch zustande, dass sowohl der untere Abschnitt des großen europäischen Stroms als auch die hiesige Region als „Niederrhein“ bezeichnet werden. Auch wenn der Fluss auf seinem langen Weg von den Alpen bis zur Nordsee Kempen im wahrsten Sinne des Wortes „links liegen“ lässt, gab es doch in der Vergangenheit immer wieder thematische Verbindungen zwischen dieser Stadt und dem Rhein.
Beginnen wir unsere Betrachtung im Kempener Vorort St. Hubert. Die ehemals eigenständige Gemeinde ging 1913 aus den Honschaften Broich und Orbroich hervor. Beide Honschaften gehörten ebenso wie Schmalbroich und andere Dörfer seit dem frühen Mittelalter als Verwaltungsterritorien zum Kempener Land und sind somit älter als die Stadt selbst. Bis zum Jahre 1929 grenzte Orbroich im Nordosten mit seinem Weiler Niep an die Niepkuhlen. Hierbei handelt es sich um eine verlandete Altstromrinne des Rheins, die während der beiden letzten Eiszeiten entstanden und in der Steinzeit vom Hauptstrom abgetrennt worden war. Dieser östlichste Teil Orbroichs wurde (Moers-)Kapellen und später Neukirchen-Vluyn angegliedert. Der Hülser Berg kam zeitgleich nach Krefeld und 1936 wurden weitere Teile der ehemaligen Honschaft nach Hüls abgetreten. Überspitzt könnte man also sagen: Wäre die Niep nicht vom Rhein abgetrennt und Orbroich nicht von St. Hubert abgeschnitten worden, dann hätte Kempen seit 1970 mit der Eingemeindung St. Huberts (sowie mit Tönisberg, das ebenfalls an die Niepkuhlen grenzt) theoretisch einen Zugang zum Rhein haben können.
Aber diese These ist natürlich wissenschaftlich nicht haltbar. Denn wenn die naturräumliche Gliederung in der Erdgeschichte anders verlaufen wäre, hätte sie auf die Siedlungsgeschichte der Menschen einen entscheidenden Einfluss gehabt. Möglicherweise wären dann Orbroich, St. Hubert oder Kempen gar nicht entstanden oder hätten sich zumindest andersartig oder vielleicht an einer anderen Stelle entwickelt.
Springen wir von der Steinzeit in die Neuzeit und wenden uns dem eingangs beschriebenen Passus „Kempen am Niederrhein“ zu, der sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte. Im Zuge des Wiener Kongresses wurde das ehemals kurkölnische Kempen 1815 mit dem gesamten Rheinland preußisch. Gleiches traf auch auf das ehemals polnische Gebiet Posen mit der dortigen Kleinstadt Kepno zu, die auf Deutsch ebenfalls Kempen hieß. Im Zuge des im 19. Jahrhundert aufkommenden Post- und Bahn-Verkehrs benötigte man nun eine klare Unterscheidung der beiden preußischen Städte namens Kempen. Angeblich landeten noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegentlich Lieferungen, die für die Stadt am Niederrhein bestimmt waren, in der deutsch-polnischen Doppelgänger-Kommune. Zur besseren Differenzierung setzte sich für das östliche Kempen der Zusatz „in Posen“ und für das westliche „im Rheinland“ durch, was den jeweiligen preußischen Provinzbezeichnungen entsprach.
Um in der Epoche des Deutschen Kaiserreichs bei der Beschriftung von Briefumschlägen, Postkarten oder auch Fahrkarten Zeit und Tinte zu sparen, wurde der Provinz-Zusatz abgekürzt: aus „Kempen im Rheinl.“ wurde „Kempen / Rhein.“ und daraus wiederum resultieren einige alten Ansichtskarten und Briefköpfe mit der Aufschrift „Kempen am Rhein“. Jedoch nähert sich der Strom damals wie heute der Kempener Altstadt in Luftlinie nur auf rund 22 Kilometer (in Höhe Uerdingen). Aber es gab schon längere Zeit Überlegungen, zumindest das Wasser des Rheins näher an Kempen heranzuführen.
Kurzer Rückblick: Bereits 1626, also im Dreißigjährigen Krieg, war auf spanische Initiative hin begonnen worden, einen niederrheinischen Kanal zu bauen. Die Fossa Eugeniana sollte zwischen Rheinberg und Venlo verlaufen und den Rhein mit der Maas verbinden. Der Bau konnte jedoch nicht fertiggestellt werden. Als der linke Niederrhein französisches Staatsgebiet geworden war, scheiterte auch Napoleon Bonaparte zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einem ähnlichen Projekt. Er wollte mit einem Teil des Nordkanals die beiden Flüsse zwischen Neuss und Venlo verbinden. Eine verfallene Schleuse bei Herongen-Louisenburg sowie das fertiggestellte Teilstück von Neuss bis Neersen, auf dem bis Mitte des 19. Jahrhunderts sogar Schiffe fuhren, zeugen noch heute von der Idee.
Auch das Gebiet des Kreises Kempen war in das Nordkanal-Projekt involviert: Unter den Franzosen war bereits begonnen worden, das Kanalbett westlich von Grefrath auszuheben, und unter den Preußen war auch das Teilstück zwischen Neersen und Süchteln schiffbar gemacht, aber nicht befahren worden. Es fand also keine nennenswerte Schifffahrt im Kempener Kreisgebiet statt, wenn man von kleinen Booten, Kähnen und Flößen auf Niers und Nette einmal absieht. Das hätte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts ändern können - wenn Krefelder Kanalbau-Pläne verwirklicht worden wären.
Nachdem bereits 1862 der Plan eines „Rhein-Niers-Canals“ von Uerdingen bis Rheydt schnell wieder in der Schublade verschwunden war, wurden nach Gründung des Deutschen Kaiserreichs wieder neue Rhein-Maas-Verbindungen angedacht. 1873 entstand der „Henket-Plan“, benannt nach einem Delfter Professor, der einen Kanal von Venlo nach Uerdingen erdachte. Die Wasserstraße sollte von Westen kommend zunächst die Trasse des Nordkanals nutzen und dann nördlich an Kempen, Hüls und Krefeld vorbeiführen. Der Plan orientierte sich stark am natürlichen Relief der Kempener Platte. Dadurch sollte sich die potenzielle Trasse auf dem Gebiet von Schmalbroich, Broich und Orbroich schlängeln, wäre aber dafür im Kempener Raum mit nur einer Schleuse ausgekommen. Diese sollte im Stadtfeld (zwischen Kempen, St. Hubert und Voesch) liegen. Das bilaterale Projekt wurde jedoch 1879 in der niederländischen Zweiten Kammer mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt.
20 Jahre später, kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts, wurde der „Henket-Plan“ von dem Krefelder Beigeordneten und Baurat Hubert Hentrich wieder aufgenommen. Er legte ein „Rhein-Maas-Schelde-Projekt“ vor, also eine Verbindung von Krefeld bis nach Antwerpen, das an dem Fluss Schelde liegt. Auf belgischer Seite sollte dabei unter anderem auf den bereits vorhandenen „Kempen-Kanal“ zurückgegriffen werden, der jedoch nicht nach der Thomasstadt, sondern nach der gleichnamigen niederländisch-belgischen Provinz benannt ist. Auf diesen Kanal bei Antwerpen geht übrigens die Bezeichnung einer relativ kleinen Binnenschiffsklasse, des sogenannten „Kempenaar“ (auch „Kempenmaßkahn“) zurück. Aber das nur am Rande.
Hentrichs Plan sah eine deutlich kürzere Trassenführung als jener von Henket vor. Der Kanal sollte nun nördlich von Kempen relativ gerade durch Wall, Voesch, Escheln und Hinterorbroich führen, wobei ungefähr zwischen Bendheide und Gastendonk eine Schleuse geplant war. Hentrich musste zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Entwurf einige Male überarbeiten, da er zunächst 1907 am Votum der Niederländer scheiterte. Die Belgier aber begrüßten sein Vorhaben, und so kam es fünf Jahre später zu einer Neuauflage der Pläne.
Der Erste Weltkrieg ließ zunächst das Projekt wieder ruhen. Nach Gründung der Weimarer Republik kam das Thema 1919 und 1923 erneut auf die Tagesordnung, da eine direkte Wasserverbindung zwischen dem Ruhrgebiet und der ebenfalls kohlereichen, belgischen Region Kempen (französisch Campine) im Interesse der Alliierten lag und deshalb Bestandteil des Versailler Friedensvertrags war. Welche Bedeutung hätte ein an Kempen vorbeiführender Kanal für die Thomasstadt gehabt? Wahrscheinlich keine direkte Teilhabe an der Wasserstraße. Denn auf dem Kanal wäre hauptsächlich Kohle transportiert worden, und da die ländliche Kleinstadt Kempen über keine Schwerindustrie verfügte, hätte hier sicherlich kein Frachtschiff angelegt, sondern wäre einfach weitergefahren. Der Bau eines Kanals hätte aber dennoch Auswirkungen auf Kempen und sein Umland gehabt: Einerseits wären feuchte Böden entwässert worden und somit schneller landwirtschaftlich nutzbar gemacht worden, andererseits hätte ein solches Bau-Projekt für (kurz- bis mittelfristige) Arbeitsplätze gesorgt.
1929 bekam Kempen tatsächlich seinen Zugang zum Rhein - wenn auch nur auf Kreisebene. Durch die kommunale Neugliederung wurden dem alten Gebiet einige aus dem Krefelder Verwaltungsraum stammende Orte zugeschlagen, wodurch der Kreis Kempen-Krefeld entstand. Dieser grenzte nun mit dem Amt Lank an den großen Strom. Von Nierst bis Ilverich verfügte der Kreis Kempen-Krefeld über rund sieben Kilometer Rhein-Ufer - und mit der Fährstation bei Langst sogar über einen Anlegepunkt. Die Eingemeindung der Lanker Dörfer in die neue Stadt Meerbusch bedeutete 1970 jedoch das Ende des „Kempener Rhein-Kreises“.
Mitte der 1950er Jahre startete Krefeld einen erneuten Versuch, das Projekt eines Rhein-Maas-Kanals wieder anzustoßen. Im Verbund mit den Kreisverwaltungen in Kempen, Geldern und Moers, die die Pläne unterstützten, wurde 1957 eine 56-seitige Denkschrift veröffentlicht. Der Plan musste jedoch 1960 zu den Akten gelegt werden, da ansässige Bergwerksgesellschaften ihr Veto einlegten. Heute sind Überlegungen zu einem Niederrhein-Kanal endgültig vom Tisch.
Und dennoch fahren auf Kempener Stadtgebiet heutzutage echte Schiffe — und zwar in St. Hubert. Hier wurde der Kendel in den 1920er Jahren zwar im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen begradigt. Aber für die Schifffahrt reicht dieses damals als Abwasserkanal genutzte Rinnsal nun wirklich nicht aus. Jedoch befindet sich südlich von St. Hubert der Königshütte-See, und dort sind seit den 1970er Jahren zahlreiche Segelboote unterwegs. Repariert und gewartet werden sie vielfach in einer Kempener Bootswerft am Industriering Ost. Weit kommen die Schiffe in Königshütte aber nicht, zumindest nicht auf dem Wasserweg. Denn dieser See ist künstlich durch das Abbaggern von Kies entstanden und verfügt daher über keinen Zu- oder Abfluss. Und weit und breit keine schiffbare Wasserstraße — hier „am Niederrhein“.