Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht „Es kann wieder passieren und das macht uns Jugendlichen Angst“
Nettetal-Breyell · Zum Gedenken an die Reichspogromnacht stellten Schüler der Gesamtschule Nettetal eine bewegende Veranstaltung vor dem Mahnmal in Breyell auf die Beine. Was sie von den Schicksalen der jüdischen Kinder aus Nettetal erfahren haben.
„Es ist schon einmal passiert, es kann wieder passieren – und das macht uns Jugendlichen Angst“, gemeinsam sprechen Anouk, Alexander, Emily, Jana, Desirée mit ihrer Geschichtslehrerin Julietta Breuer diesen Satz am Ende der bewegenden Gedenkfeier am Breyeller Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 13 der Gesamtschule Nettetal haben im Rahmen ihres Geschichts-Zusatzkurses die Gedenkfeier für den 9. November gestaltet.
Das Interesse an und das Bewusstsein für Geschichte zu wecken, das nennt Julietta Breuers als Ziel ihres Geschichtsunterrichts. Um das zu erreichen, knüpft sie an die Lebenswelt der Jugendlichen an. „Wir sind durch Breyell gelaufen und haben Bezüge zwischen dem, was hier und in der Welt passiert ist, gefunden“, erklärt Jana. Wer wo lebte, wo die Synagoge stand, was in der Reichspogromnacht geschah, das gehörte zu dem, was sie hautnah erfuhren. Emily ergänzt: „Geschichte wird greifbar.“ Bisher sei der 9. November 1938 nur ein Datum gewesen, so Desirée. Jetzt kann die Schülerin den Tag mit menschlichen Schicksalen verknüpfen. „Geschichtsunterricht interessiert mich jetzt viel mehr.“
Walter Sanders und Erich Cohen sind zwei jüdische Jungen aus Nettetal, auf deren Geschichte sie gestoßen sind und die sie vor dem Mahnmal erzählen. Walter Sanders aus Lobberich musste gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern Anfang 1939 Deutschland in Richtung Holland verlassen. Nach dem Überfall der Nationalsozialisten auf Holland wurden die Geschwister nach Auschwitz deportiert. Während die jüngeren Geschwister in der Gaskammer ermordet wurden, überlebte Walter als arbeitsfähiger Schweißer das Lager.
Erich Cohen aus Kaldenkirchen war das einzige Kind, das durch einen Kindertransport gerettet werden konnte. Der Niederländerin Gertruida Wijsmuller-Meijer, Tante Truus genannt, gelang es, insgesamt 10.000 jüdische Kinder mit diesen Transporten in Sicherheit zu bringen. Diese Widerstandskämpferin der außergewöhnlichen Art hatten die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule am Tag zuvor in dem Dokumentarfilm „Truus‘ Children“ aus dem Jahr 2020 kennengelernt, den die Regisseurinnen Pamela Sturhoofd und Jessica van Tijn auf Einladung des Leiters der Gesamtschule, Leo Gielkens zeigten.
Gertruida Wijsmuller-Meijer wurde 1896 geboren. Die Frau eines Bankiers trat nach der Reichspogromnacht im November 1938 in Aktion, als klar war, dass das Leben jüdischer Kinder in vielen Ländern Europas nicht mehr sicher war. Sie organisierte Kindertransporte, der jüdische Kinder aus Wien, Deutschland, der heutigen Tschechischen Republik und Polen nach Holland und England brachte. Auf diese Weise rettete sie schon bis Mai 1940 10.000 Kindern das Leben. 74 Kinder holte sie aus dem Waisenhaus in Amsterdam, um sie an Bord des Schiffes SS Bodegraven zu bringen. Gertruida Wijsmuller-Meijer starb 1978.
Auch das gemeinsame Schauen dieses Dokumentarfilms ist ein Stück greifbar gewordener Geschichtsunterricht. Interviews mit Überlebenden und Bilder aus der Zeit wechseln sich ab. Die Filmemacherinnen luden die Schülerinnen und Schüler anschließend ein, Fragen zu stellen. Wie es gewesen sei, mit den Menschen zu sprechen, wollten die Schüler von den Filmemacherinnen. Sehr emotional, sagten diese. Zu Beginn seien sie auch besorgt gewesen, inwieweit sie die Männer und Frauen in ihren Gefühlen verletzen könnten, wenn sie nach dem Vergangenen fragten. Aber die Geretteten seien mehr als bereit gewesen, ihre Geschichte zu erzählen.
Eine andere Frage lautete, ob die beiden Frauen Momente gehabt hätten, in denen sie ihr Projekt lieber aufgegeben hätten. „Oft“, antwortete Jessica van Tijn. Aber sie hätten sich Gertruida Wijsmuller-Meijer zum Vorbild genommen, die auch nicht aufgegeben habe. Besonders anrührend sei das Interview mit Gerti Colden gewesen, der einzigen Person, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückgegangen sei. Sie habe sehr geweint
Die Schülerinnen und Schüler nahmen aus dem Film mit, dass man die längst vergangene Geschichte wach und lebendig halten müsse und dass Jede und Jeder Einfluss nehmen könne, was ein Schüler mit „Everybody can make a difference“ beschrieb. Pamela Sturfhoofd und Jessica von Tijn betonten, dass der Mensch, der 10.000 Kinder vor den Nationalsozialisten gerettet habe, eine Frau gewesen sein und als Vorbild für alle Frauen diene.
Zurück zu der Geschichte des 1928 geborenen Erich Cohen. Er lebte mit seiner Familie an der Bahnhofstraße in Kaldenkirchen. 1939 schickten seine Eltern ihn nach Amsterdam, wo der 12-Jährige in einem städtischen Waisenhaus lebte. Die Flucht geschah überstürzt. Von Amsterdam aus fuhren die Kinder nach Ijmuiden, um dort das letzte Schiff, die Bodegraven, zu erreichen, das noch nach England fuhr. Cohen starb im Mai 1929 in England.
Im Andenken an die getöteten Kinder aus Nettetal nannten die Gesamtschülerinnen und Gesamtschüler zum Abschluss ihrer emotionalen Feier ihre Namen.