Lesetipp aus Tönisvorst Ein bissiges Roman-Debüt über die moderne Arbeitswelt
Tönisvorst · Carmen Alonso, Leiterin der Bibliothek Tönisvorst, stellt Bücher vor. Diesmal: „Xerox“ von Fien Veldman.
Schon Kafka hielt das Bureau für den Bodensatz des Jammers. Dieser Roman nun ist eine bitterböse Abrechnung mit der modernen Arbeitswelt und dem vermeintlichen Wert des gesellschaftlichen Status.
Den Namen der Ich-Erzählerin dieser Geschichte erfährt man zwar nicht, man taucht aber schnell ein in ihr Leben in Amsterdam, einer Stadt mit zu viel Lärm, nervigen Touristen und gleichgültigen Bewohnern. Als die Hauptfigur zum Beispiel eines Tages auf der Suche nach einem falsch zugestellten Paket durch die Stadt hetzt und dabei einen Schwächeanfall erleidet, bekommt die fast ohnmächtig auf dem Boden liegende statt Hilfe nur ein: „Ich habe mich letzte Woche verhoben. Sorry!“.
Die junge Frau arbeitet bei einem Startup-Unternehmen und ist zuständig für Kopierarbeiten, den Postverkehr und springt ein als Vertretung für den Kundendienst. Sie hat den schlechtbezahltesten Job dort und pflegt kaum Kontakt zu den anderen, hippen Kollegen, nennt diese auch nur nach deren Abteilung: Marketing zum Beispiel hat immer schicke neue Schuhe und trägt Bart, wie alle Männer seines Alters in dieser Welt. Wenn jemand hier einen Anzug trägt, ist das ironisch gemeint. Die Hauptprotagonistin, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt, leidet unter fehlendem Selbstvertrauen. Was, wenn sie an einem anderen Ort aufgewachsen wäre, wenn sie reich genug wäre? Reiche Menschen nämlich hätten keine Selbstzweifel, stellen sich nie die Frage: „Habe ich das alles verdient – Stipendium, Führerschein mit 18, Klavierunterricht, Winterurlaube?“ Sie kennen es von klein auf nicht anders, sind schon mit Gewinnermentalität gestartet. Die Ich-Erzählerin aber schämt sich ihrer Familie, für den Akzent, den sie früher hatte.
Die Ich-Erzählerin weiß: Auch Fruchtfliegen haben Albträume
Alleine hockt sie in ihrem kleinen Büro und nur der von ihr betreute Kopierer bedeutet ihr etwas; ihm erzählt sie offen ihre innersten Gedanken und Nöte. Eines Tages bittet ihr Chef sie zu einer Unterredung. Kollegen haben ihre Gespräche gehört und unterstellt, sie würde auf Kosten der Firma täglich stundenlang privat telefonieren. Sie wird für eine Zeit freigestellt, um „zur Ruhe zu kommen“. Fern ihrem Kopierer, spaziert sie plan- und ziellos durch die Straßen und schwankt zwischen Panikattacken und peinlichen Erlebnissen: So missversteht sie ein Touristenpaar auf der Suche nach einem Coffee-Shop (wir sind schließlich in Amsterdam!) und geleitet die Entgeisterten zu einem Copy-Shop. Sie kommt nicht klar, hält die Menschen für unfähig zur Rücksicht auf die Gefühle anderer, erst recht nicht auf die von Pflanzen und Tieren; aber, auch Fruchtfliegen haben Albträume!
Ein Kapitel ist skurril den „Gedanken“ des Kopierers vorbehalten und seinen Beobachtungen der Menschen um ihn herum, deren Intrigen die Maschine durchschaut: So wird das Kopierer-Zimmerchen zukünftig gebraucht für Kollegen „Produkt“, der hier kostensparende Verbesserungen einführen soll. Ganze Bereiche werden outsourct, 60 Prozent der Belegschaft gekündigt, den Kundendienst übernimmt ein Chatbot. Der Kopierer weiß aber auch um ein Geheimnis der zwangs-beurlaubten Hauptfigur, welches sich in ihrem Herkunftsmilieu abgespielt hat und welches ihr Leben überschattet…
Diese schnörkellos erzählte Geschichte ist durchwoben von fantastischen Elementen, legt den Finger aber durchaus realistisch in die Wunde einer modernen Gesellschaft, in der der Einzelne nichts zählt, nur seine Produktivität, seine Angepasstheit und die soziale Herkunft.