Lesetipp aus Tönisvorst Ein Land-Leben in Mecklenburg
Tönisvorst · Carmen Alonso, die Leiterin der Tönisvorster Stadtbücherei, gibt unseren Lesern Literaturtipps. Dieses Mal: Alina Herbig: „Tiere, vor denen man Angst haben muss“
Schon ihr Debüt „Niemand ist bei den Kälbern“ war 2017 eines der am meisten diskutierten Romane der damaligen Literatursaison, 2022 auch erfolgreich verfilmt. Nun liegt der nächste „Anti-Heimat“ Roman von Alina Herbig vor und - hat es wieder in sich:
Die beiden Schwestern Madeleine und Ronja wachsen in den 90ern auf einem Hof in Mecklenburg auf. Ihre Eltern waren von Lübeck hierhergezogen, um ein ursprüngliches Leben führen zu können und sich ihren „antikapitalistischen“ Traum zu erfüllen. Die Ehe zerbricht jedoch und die Mutter widmet sich nur noch und ausschließlich ihrem Job in einer Tierauffangstation.
Das Leben auf diesem Hof ist bedrückend, die ersehnte heile Welt entwickelt sich zu etwas Düsterem, wie bereits die Eingangsszene zeigt: die 11-jährige Madeleine, die Erzählerin, sitzt in ihrem Kinderzimmer und müsste eigentlich ins Bad. Im Flur aber lauert knurrend Brutus, eines der vielen Tiere, die dank der Mutter im Haus Unterschlupf gefunden haben. Also aus dem Fenster geklettert, um auf diesem Wege auf das Plumpsklo gelangen zu können. Im Garten aber warten schon die beiden Wildschweine, die sich auf jeden stürzen, der sich blicken lässt.
Die Mutter sitzt währenddessen am Küchentisch und telefoniert; es ist ihr einfach wurscht. Früher war sie Krankenschwester auf einer Intensivstation und denkt daher, die wüsste alles besser. Als Madeleine zum Beispiel nach einem Fahrradunfall eine Rippenquetschung erleidet, winkt sie ab und spendet ihr keinen Trost, sondern bloß abgelaufene Medikamente.
Unnachgiebig und unaufhaltsam verschieben sich die Grenzen zwischen Natur und Zivilisation: Das Haus verwahrlost, Pflanzen dringen durch alle Ritzen, der Inhalt des Kühlschranks vergammelt, auf dem hölzernen Dachstuhl vermehren sich die Mäuse, die Heizung funktioniert nicht. Und doch versuchen die beiden Schwestern, ihr Leben trotz aller Widrigkeiten zu gestalten: gelernt wird dann eben in dicken Jacken und mit einer Wärmeflasche als Wärmequelle. Es beeindruckt die Kraft dieser jungen Frauen, deren einziges Highlight der neue Quelle-Katalog ist und die zusammenhalten und versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen, ihren Platz in der Welt zu finden. Das Ende dieses Romas ließ mich sprachlos zurück, ich hoffte erst, ich habe da einfach etwas falsch verstanden.
Alina Herbig (Jahrgang 1984) bricht erneut gnadenlos mit dem romantischen Image des Landlebens und sie zerpflückt ein kaputtes Familienleben, das ohne Anteilnahme und liebevolle Fürsorge verläuft. Dies alles unaufgeregt in einer lakonischen Sprache beschrieben, überaus eindringlich und bedrückend.