Willicher Stadtgeschichte: Stundenlanger Marsch zum Gottesdienst

Willich und Anrath trennten sich im 11. Jahrhundert vom Kempener Pfarrbezirk. Zuvor mussten die Menschen teils kilometerweit zur Kirche laufen.

Willich. 1146 war ein böses Jahr. Am Niederrhein war das Getreide so knapp, dass ein Malter Korn die für damalige Zeiten horrende Summe von 13 Schillingen kostete. Trotzdem bauten die Willicher ihre Pfarrkirche fertig: ein dreischiffiges romanisches Gotteshaus mit einem nach Westen gerichteten Turm. Aber es war bereits ihre zweite Kirche: Reste der ersten wurden 1849 entdeckt.

Für Anrath ist eine Pfarrkirche um 1010 bezeugt. Beide Gebäude, im Lauf der Jahrhunderte mit zahlreichen An- und Umbauten versehen, wurden vor gut 100 Jahren restlos abgebrochen.

Heute kann sich keiner mehr vorstellen, dass Willich und Anrath in altersgrauen Zeiten Teil eines riesigen Kempener Pfarrbezirks waren, von dem sie sich wegen der stundenlange Wege zum Gottesdienst im 11. Jahrhundert trennten.

Das Anrather Kirchlein bekam um 1010 pfarrkirchliche Rechte - was den Anstoß zum bereits ausgiebig gefeierten Ortsjubiläum lieferte. Von Willich wiederum war bis 1554 Kaarst, von Anrath war bis 1548 Schiefbahn abhängig. Neersen emanzipierte sich erst 1798 von der Anrather Mutterkirche.

Die Kirche hatte Macht über die Seelen. Weltliche Gewalt übte im Stadt Willicher Gebiet der Kölner Erzbischof aus, der aber trotz seines geistlichen Amtes in erster Linie Landesherr und Machtpolitiker war. Trotzdem durfte er als Geistlicher kein Blut vergießen - weshalb in seinem Auftrag Schirmherren oder "Vögte" die Rechtspflege (einschließlich der Vollstreckung von Todesurteilen) ausübten.

An der Niers wurde die erzbischöfliche Vogtei von den Herren von Neersen wahrgenommen: Ein Rittergeschlecht, das sich nach dem Fluss nannte, an dem es in mehreren Etappen eine Burg baute, die wie eine Insel inmitten der wasserreichen Bruchgebiete lag.

In ihrem Schutz entstand seit dem 15. Jahrhundert an einer parallel zur Niers nach Norden laufenden Straße (der heutigen Hauptstraße) die Dorfsiedlung "Neerstrat".

Die Dörfer Willich und Anrath siedelten sich dagegen um die dortigen Kirchen an - in erster Linie aus Bauernsöhnen, die auf dem väterlichen Hof kein Auskommen fanden und ein Handwerk ergriffen, um den Treffpunkt Kirchplatz zum Warenaustausch zu nutzen.

Wobei von den drei Dörfern Anrath noch am ehesten kleinstädtischen Charakter besaß, denn 1414 erhielt der Ort von Kaiser Sigismund das Marktrecht; um 1500 wird seine Befestigung mit Wall und Graben erwähnt.

Aber die ältesten Namenformen weisen zurück auf eine Zeit, in der es diese Dörfer noch nicht gab: "Anrode" erinnert an die "Rodung", die die mittelalterlichen Siedler in den Wald schlugen.

Dort wurde die Kirche gebaut, die Jahrhunderte lang als Seelsorgezentrum für die umliegenden Bauernschaften diente. "Wylike" geht auf einen "Weiler" zurück, d.h. auf eine Gruppe von Gehöften um den alten erzbischöflichen Herrenhof nordwestlich der heutigen Parkstraße.

Im alten Unterbruch, dem heutigen Schiefbahn, machten die sumpfigen Gebiete am Rand eines verlandeten Rheinarms eine Besiedlung erst seit dem 12./13.Jahrhundert möglich.

Ein Schießstand ("Scheibenbahn"), der für die Schützen des Pfarrbezirks Anrath errichtet worden war, gab dem Dorf, das etwa seit 1500 entlang einer alten Heerstraße entstand, seinen Namen.