„Freilerner“-Aktivistin aus Grevenbroich Schulgang: Kind entscheidet selbst

Grevenbroich · Eine Mutter aus Grevenbroich sieht in der Schulpflicht eine Verletzung der Grundrechte. Jetzt droht ihr Ärger.

Tatjana Weigels Kinder (dreieinhalb und fünf Jahre alt) beim Spielen. Beide gehen nicht in den Kindergarten. Ihre Eltern wollen ihnen selbst überlassen, ob sie in die Grundschule gehen möchten.

Foto: Kandzorra, Christian

Diesen Juni wird Lotte sechs Jahre alt. Damit wird sie schulpflichtig, müsste eigentlich in die Grundschule gehen, Rechnen, Lesen und Schreiben lernen. So wie andere Kinder auch. Ob Lotta aber nach den Sommerferien tatsächlich eine Grundschule besuchen wird, ist offen. „Das soll meine Tochter selbst entscheiden“, sagt Mutter Tatjana Weigel. Sie will ihrer Tochter die Wahl lassen. „Sie wird es ausprobieren. Wenn sie aber nicht zur Schule gehen möchte, wird sie auch nicht gehen.“

Tatjana Weigel heißt in Wirklichkeit nicht Tatjana Weigel. Ihre fünfjährige Tochter heißt auch nicht Lotte, ihr dreijähriger Sohn, den wir Milan nennen, hat in Wirklichkeit auch einen anderen Namen. Die Familie aus Grevenbroich möchte nicht erkannt werden – und doch ist es vor allem Mutter Tatjana Weigel eine Herzensangelegenheit, öffentlich über das sogenannte Freilernen, das selbstbestimmte Lernen von Kindern, zu sprechen.

Die Grevenbroicherin – selbst Abiturientin mit abgeschlossener Berufsausbildung und seit einigen Jahren selbständig – bezeichnet sich als Aktivistin, als eine Art Bürgerrechtlerin, die sich für Kinderrechte stark macht. Sie sieht die Schulpflicht als Grundrechtsverletzung und tritt öffentlich auch mit einer eigenen Internetseite, dem „Freilerner-Kompass“, dafür ein, dass junge Menschen die Wahl haben sollten, wie sie ihre Bildung gestalten möchten. „Ich bin keine Systemkritikerin“, betont die Mutter. Würde sich ihre Tochter im Sommer dazu entscheiden, normal in die Schule zu gehen, wäre das für sie keinesfalls ein Problem. Aber: „Sie soll die Wahl haben.“

Seit vier Jahren beschäftigt sich Tatjana Weigel mit dem Freilernen, ist in der Szene bekannt, organisiert auch Veranstaltungen der „Freilerner-Solidar-Gemeinschaft“, einem Verein, der Eltern und deren freilernenden Kindern Unterstützung bieten will. „Ich weiß von fünf Familien im Rhein-Kreis Neuss, in denen Freilernen praktiziert wird. NRW-weit sind es bestimmt 200“, sagt die Grevenbroicherin. Doch: Was heißt Freilernen eigentlich? Freilernen – das sei nicht vergleichbar mit dem sogenannten Home-Scooling nach Lehrplan, erklärt sie. Beim Freilernen könnten Kinder selbst entscheiden, ob, was und wann sie lernen möchten – gekoppelt an ihre Interessen. „Informelles Lernen“ lautet das Stichwort. Tatjana Weigel würde – sollte sich ihre Tochter tatsächlich gegen den Schulbesuch entscheiden – auch keine Themen konkret an sie herantragen. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass trotzdem Themen kommen werden, für die sie sich begeistert.“ Gerade beginne die Fünfjährige etwa, sich für das Dezimalsystem zu interessieren.

Die Unterrichtszeiten, die oftmals nicht dem Biorhythmus der Kinder entsprechen, die enge Thementaktung – für Tatjana Weigel gibt es mehrere Gründe, das klassische Schulsystem mit Schulpflicht in Deutschland kritisch zu hinterfragen. „Ich selbst war früher nicht gern in der Schule“, gibt sie zu. „Deshalb möchte ich meinen Kindern die Wahl lassen.“

Die Mutter weißt, dass sie mit Bußgeldern rechnen muss

Über die Konsequenzen ist sich die Grevenbroicherin im Klaren. Noch sind Lotte und Milan legal bei ihren Eltern zu Hause, eine Kita-Pflicht gibt es nicht. Im Grundschul-Alter hingegen ist das anders. Die Mutter weiß, dass sie sich dann gegebenenfalls Fragen von Jugendamt und Schulbehörden gefallen lassen muss, dass Bußgelder drohen, wenn ihre Kinder nicht zur Schule gehen. Auf diese Auseinandersetzungen sieht sie sich gut vorbereitet – auch mit Blick auf die „Freilerner-Solidar-Gemeinschaft“, die in Kontakt mit Psychologen und Anwälten stehe. „Ich bin auch bereit, notfalls durch die Instanzen zu gehen“, sagt sie und gibt sich selbstbewusst.

Weigel ist allerdings überzeugt: Allmählich findet in der Gesellschaft ein Umdenken statt. Davon zeuge zumindest, dass sich immer mehr Mütter – die Kinder teilweise weit von der Schulpflicht entfernt – über das Freilernen informierten. Sie kenne auch Familien mit freilernenden Kindern, die von den Behörden mittlerweile komplett in Ruhe gelassen werden. Und: ehemalige Freilerner, die – mit oder ohne nachgeholtem Schulabschluss – inzwischen auf eigenen Beinen stehen und finanziell unabhängig seien.

Der Grevenbroicher Schulleiter Manfred Schauf (Pascal-Gymnasium) sieht das Freilernen durchaus kritisch: „Ein Vorteil kann sicherlich die vertraute Lernumgebung sein. Beschäftigen sich Kinder mit dem, was sie gerade interessiert, sind sie sicher auch motiviert, etwas zu lernen. Aber das macht das Lernen sehr zufällig.“ Schauf bezweifelt, dass Kinder so systematisch auf das Leben vorbereitet werden können. „Ein weiterer Aspekt ist das soziale Lernen. Teamfähigkeit, Konfliktbewältigung, die Ausbildung eines demokratischen Werteverständnisses“, zählt der Schulleiter auf. Mutter Tatjana Weigel sieht das lockerer: Ihre Familie sei gut vernetzt. „Meine Kinder haben viele Freunde, wir haben eine große Familie, einen großen Bekanntenkreis.“ Schlussendlich schlägt die Grevenbroicherin eine Brücke zu den Rechten, für die Frauen einst einstehen mussten: „Was man vor 150 oder 200 Jahren über Frauen dachte, ähnelt dem, was man heute über Kinder denkt.“