Mit allen politischen Wassern gewaschen Warum Innenminister Reul wohl nicht zurücktritt

Düsseldorf · Der 66-Jährige reagiert cool auf die Forderung der SPD, er solle seinen Stuhl räumen. Doch er schäumt – vor allem wegen des Vorwurfs nicht glaubwürdig zu sein.

Rosenmontagszug in Köln – da war Herbert Reul (CDU) in seinem Element: nah am Volk und gut gelaunt.

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Bei Landwirtschaftsministerin Christina Schulze Föcking hatte es wie am Schnürchen geklappt, bei Integrationsminister Joachim Stamp schon nicht mehr, bei Justizminister Peter Biesenbach ebenso wenig. Und jetzt bei Herbert Reul? Der CDU-Innenminister ist binnen eines Jahres das vierte Kabinettsmitglied, das die Opposition in NRW gern zu Fall brächte. Stolpersteine liegen ausreichend auf Reuls jüngerem Weg im Amt. Jetzt Lügde.

Am Mikrofon im Landtag gibt sich der 66-Jährige bisher meist gefasst, sogar gleichgültig – Rücktrittsersuchen seien ihm egal, so lange er in der Sache vorankomme, erklärte er vor drei Wochen in einer Sondersitzung des Innenausschusses. Doch innerlich schäumt er. Und das nicht erst, seit offiziell sein Ende im Amt gefordert wird. Ausgerechnet er soll Fehler nicht offen zugeben, zu spät reagiert, Vertrauen verspielt haben? Er, der Klartextreder, der „Mr. Null Toleranz“ der Landesregierung? Er, dessen größtes politisches Kapital neben seiner enormen Erfahrung es ist, so zu denken und zu reden wie die Leute auf der Straße. Dieser Vorwurf trifft Reul.

Sein erstes Jahr als Innenminister dürfte größtenteils nach seinem Geschmack gewesen sein. Das Jahr des Kennenlernens. Leutselig ist wohl das Attribut, das am liebsten zur Beschreibung von Herbert Reul verwendet wird. Weil’s passt. Ihm machten die Besuche bei den Polizeieinheiten Spaß, zu denen er immer „Geschenke“ mitbrachte – neue Pferdeanhänger (und Möhren) für die Reiterstaffel, neue Boote für die Wasserschutzpolizei. Es wurde gelacht und gelobt. Reul muss gewusst haben, es würde nicht so bleiben. Das Innenministerium ist kein Ort für anhaltend eitel Sonnenschein. Und der Leichlinger ist zwar Rheinländer und geborener Optimist, aber zu lange im Geschäft, um diese politische Realität zu verklären.

Einen Vorgeschmack bekam er im Sommer 2018: Da fiel Reul sein eigener Hang, zu sprechen, bevor er selbst oder sein extrem versierter Stab gedacht hat, im Fall Sami A. vor die Füße, als er forderte, Gerichte sollten sich am Rechtsempfinden der Menschen orientieren, was bis zur Verfassungskrise hochstilisiert wurde. Am Ende entschuldigte sich der Innenminister. Etwas, das Reul zu einem Regierungsstil erhob. Als der unschuldige Syrer Amad A. in der JVA Kleve starb, räumte er augenblicklich Polizeifehler ein und bat um Verzeihung. Dafür zollte ihm die Opposition Respekt und stürzte sich stattdessen auf Justizminister Biesenbach. Beim Polizeigesetz besserte Reul nach und erhielt am Ende sogar die Zustimmung der SPD. Im Interview fragten wir ihn seinerzeit, ob er nicht Angst habe, sein Einlenken werde als Anzeichen verstanden, er beherrsche sein Handwerk nicht. Die Antwort: „Ich bin so alt, mir ist wurscht, ob ich mich korrigiere. Hauptsache, die Sache ist am Ende gut.“ Und dann setzte er nach: „Die Leute haben genug von Politikern, die alles wissen. Superman gibt es nicht, auch nicht in der Politik.“

Dass Reul derart in einem Wortlautinterview formuliert, zeigt, dass seine Schnoddrigkeit weit mehr ist als eine Marotte, gegen die er nicht ankommt. Auch wenn er das gern und oft glauben macht, indem er kundtut, nunmehr vom Redemanuskript abweichen und die Missgunst seines Pressesprechers riskieren zu wollen – welcher in einer hinteren Reihe mildtätig dazu lächelt, weil er natürlich längst weiß, dass gerade der Zauber seines Ministers außerhalb des Redemanuskriptes liegt. Auch die empörtesten Oppositionspolitiker müssen bisweilen schmunzeln, wenn Reul bei seinen Sachstandsberichten zum x-ten Mal „Lüttje“ statt Lügde sagt. Seine rheinische Schnauze ist grundauthentisch – aber keinesfalls wider sein politisches Kalkül.

Herbert Reul ist keiner, der Kameras immer eine glatte Mimik bietet. Er guckt, wie er spricht – mit Ecken und Kanten.

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Ob sich die Opposition geärgert hat, Reul im Fall Amad A. vorschnell aus ihren Fängen gelassen zu haben? Zumindest scheint es, als wolle man im Fall Lügde strenger sein. Auch diesmal räumte Reul in bewährter Manier Fehler ein, entschuldigte sich und versprach „rückhaltlose Aufklärung“ – doch der Jubel blieb aus. Während der Minister in der Causa Amad A., wo ein Mensch infolge von Polizeifehlern starb, fast sofort aus der Schusslinie war, soll Lügde ihn jetzt nach dem Willen der SPD aus seinem Kabinettssitz katapultieren, wo die Fehler, die einen jahrzehntelangen Missbrauch von Kindern ermöglicht haben, außerhalb seiner Amtszeit und großteils außerhalb seines Ressorts gemacht wurden. Weil noch nach den Durchsuchungen zufällig Datenträger gefunden wurden, die laut Strafverfolgern für das Verfahren aber unerheblich sind. Die Grünen, die Reuls Rücktritt bislang nicht fordern, kritisieren, er habe mindestens drei Wochen zu spät die Ermittlungen an das Präsidium Bielefeld übertragen – die Pannen bei der Polizei Lippe waren aber auch da schon passiert und werden laut Staatsanwaltschaft ebenso wenig dafür sorgen, dass die Greueltaten ungesühnt bleiben.

Mehr als Rücktrittsforderungen indes ärgern Reul vermutlich zwei Behauptungen aus den Reihen der Opposition. Zum einen jene, er habe das Vertrauen der Menschen in NRW verspielt. Ausgerechnet. Wo er neben seinem Alter fast nichts so oft thematisiert wie Glaubwürdigkeit. Das tat er schon in Brüssel.

Wie wichtig ihm eine glaubwürdige Politik ist, darf man ihm abnehmen. Während er sich sonst bei aktuellen Innenausschussdebatten noch weitgehend in Reul’scher Versöhnungsrhetorik übt, sich artig bedankt für kritische Nachfragen aus der Opposition und sogar für deren Anträge auf Sondersitzungen mit dem Ziel, ihn zu grillen, fährt er bei diesem Punkt mittlerweile fast aus dem Hemd. Und wird nicht müde, aufzuzählen, was bei der Fehlersuche in Lippe, aber auch beim Aufdecken struktureller Defizite in der Bekämpfung von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie jüngst unter seiner Ägide geleistet wurde. Da fühlt er sich arg unverstanden und das ist spürbar.

Die zweite Behauptung ist die, er stehe nicht hinter seiner Polizei – so offen, wie er sie im Fall Lügde an den Pranger stellte. Immer wieder erklärt Reul, dass er „seine Polizei“ zu schützen versucht, indem er sie transparent macht und nicht den Eindruck einer verschworenen Einheit aufkommen lassen will, der die Bürgerschaft ausgeliefert ist. Tatsächlich spricht seine bisherige politische Bilanz für eine sehr rasch gewachsene Bindung an die Mammutbehörde, mit der er vorher denkbar wenig am Hut hatte: jede Menge neue Ausrüstung, fast 700 Millionen für marode Wachen, Investitionen in neue Technologie, ein neues Polizeigesetz. Und dies ist das eine, das Reul sogar noch häufiger anspricht als sein Alter und politische Glaubwürdigkeit: Wie sehr vorige Landesregierungen die Polizei haben ausbluten lassen.

Reul ist mit allen politischen Wassern gewaschen

Menschen, die Herbert Reul nicht gut kennen, neigen dazu, ihn zu unterschätzen. Seine Europaparlamentskollege und „Titanic“-Satiriker Martin Sonneborn nennt ihn gar „ein bisschen dumm“. Aber seine vermeintliche Schwäche ist Reuls Stärke, sie macht ihn für seine Gegner schwer zu packen.

Und er mit allen politischen Wassern gewaschen. Warum sonst hätte man diesen früheren Lehrer auf einen der turbulentesten Regierungsposten in NRW setzen sollen? Ein Angebot, das Reul in vollem Bewusstsein annahm, sein Leben würde dadurch nicht entspannter, als es in Brüssel war. Und in seinem Alter hat er natürlich gelernt, mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen zu leben. Auch durch diese Krise hindurch.Mal stoisch, mal aufbrausend, mal mit versöhnlichem Lächeln. Er ist vielleicht nicht Superman, aber er hat den Atem – und die Opposition bislang nicht genug in der Hand, was ihm diesen verschlagen könnte.