Stadtgeschichte Tönisvorst: Deportation und Ermordung der Juden Wie schnell die Würde verloren geht
Tönisvorst · Die erste Deportation Tönisvorster Juden erfolgte am 11. Dezember 1941 nach Riga. Diese erste Fahrt in den Tod nahm den größten Teil der Juden aus dem Kreisgebiet mit.
Die erste Deportation Tönisvorster Juden erfolgt am 11. Dezember 1941 nach Riga, der Hauptstadt Lettlands. Dort sollen sie, wie es offiziell heißt, in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten Aufbauarbeit leisten. Zur Vorbereitung hat die Gestapo-Leitstelle Düsseldorf am 4. Oktober 1941 den Kempener Landrat Jakob Odenthal aufgefordert, ihr bis zum 11. Oktober eine Liste der noch im Landkreis wohnhaften Juden zuzustellen, damit die Gestapo ihre „Judenkartei“ vervollständigen kann. Angefertigt wurden die Verzeichnisse von den beiden Bürgermeistern in St. Tönis und Vorst mithilfe des Einwohnermeldeamtes und der Ortspolizei.
Diese erste Fahrt in den Tod am 11. Dezember 1941 nimmt den größten Teil der Juden aus dem Kreisgebiet mit – darunter neun aus St. Tönis und, soweit bisher feststellbar, zwei aus Vorst. Nur Paul Kaufmann aus St. Tönis, Hochstraße 67, hat diese Vernichtungsaktion überlebt.
Mit dem „Schluff“ – der Industriebahn – werden die St. Töniser und Vorster Juden am 10. Dezember 1941 zum Krefelder Hauptbahnhof gebracht und von dort weiter zum Düsseldorfer Schlachthof Derendorf. An dessen langer Verladerampe sind am 11. Dezember ab vier Uhr morgens 1007 für die Deportation bestimmte Männer, Frauen und Kinder, vom Säugling bis zum 65-Jährigen, aufgereiht. Mehr als fünf Stunden lang warten sie, werden dann um 10.30 Uhr in einen Zug geprügelt, der sie nach Riga bringt. Eine qualvoll lange Fahrt, 61 Stunden lang. Verpflegung für die Deportierten ist nicht vorgesehen. Wenn sie nachts in einem Bahnhof halten, um Militärtransporte vorzulassen, heben sie ihre Kinder hoch und bitten die Passanten auf den Bahnsteigen um etwas zu trinken für die Kleinen.
Im Getto von Riga haben die SS und lettische Polizei auf grausame Weise Platz für die neu Angekommenen geschaffen: In zwei Aktionen (30. November sowie 8. und 9. Dezember) ist die bisherige Einwohnerschaft größtenteils erschossen worden. Das Massaker hat im Schnee Spuren hinterlassen: „Als der Transport vom Niederrhein im Rigaer Getto ankam, fanden sich noch gefrorene Blutlachen auf den Straßen“, hat ein Augenzeuge später berichtet. Das Blut stammt von 900 alten und gebrechlichen Menschen und von Kindern, die mit der Marschkolonne auf dem Weg zur Exekution nicht Schritt halten konnten.
Nach der Ankunft werden die Juden in den Häusern des Gettos zusammengepfercht: „Wir wurden durchschnittlich mit 16–18 Leuten in einem Raum untergebracht. An Verpflegung besaßen wir nur das, was wir noch in unseren Rucksäcken hatten oder in den so traurig verlassenen Wohnungen vorfanden.“ Acht Tage lang müssen die Männer des Düsseldorfer Transports zusammen mit lettischen Juden und deutschen Überlebenden zweier früherer Transporte Schiffe entladen. Ihren Hunger stillen sie mit Rüben, die sie während ihres Marsches zum Hafen aus den verschneiten Äckern ziehen. Alte und kranke Menschen werden zu Hunderten durch Kugeln oder Lastwagenabgase ermordet.
Im Getto müssen die Deportierten Zwangsarbeit verrichten, die Frauen in den Gewerbebetrieben der SS, in Nähkammern oder Wäschereien. Um nicht zu verhungern, sind die Getto-Insassen gezwungen, Tauschhandel mit Lebensmitteln oder Kleidern zu treiben, die sie sich unter der Hand beschafft haben. Wer dabei erwischt wird, kommt an den Galgen. Zur Abschreckung müssen die Leichen drei Tage hängen bleiben. Doch der Hunger ist stärker als die Todesangst, und so geht die Schmuggelei mit Brot, Mehl und anderem Essbaren weiter. Um zu überleben, braucht man ein Netzwerk guter Kontakte inner- und außerhalb des Gettos, über das man tauscht oder verkauft, was man hergestellt oder durch Löcher im Drahtverhau eingeschmuggelt hat.
Bald folgt die nächste Deportation. Am frühen Morgen des 24. Juli 1942 werden die noch in St. Tönis und Vorst verbliebenen Juden aus ihren Häusern geholt und wieder über Krefeld zum Düsseldorfer Schlachthof Derendorf „evakuiert“. Diesmal geht die Fahrt nach Theresienstadt im heutigen Tschechien. Der NS-Propaganda zufolge handelt es sich dabei um ein Lager für Privilegierte, eine Art Vorzeige-KZ. Die meisten Deutschen glauben das auch. Von den Teilnehmern dieses Transports sind aus St. Tönis 14 feststellbar, aus Vorst drei.
Die älteren Juden aus dem Rheinland haben es hier besonders schwer gehabt. Theresienstadt ist im 18. Jahrhundert als Festungsstädtchen für 3500 Soldaten und Zivilisten erbaut worden. Jetzt sind dort ständig 40 000 bis 50 000 Menschen auf weniger als einem Quadratkilometer tschechischer Erde zusammengepfercht: Im Schnitt verfügt jeder Getto-Insasse im August 1942 über einen „Wohnraum“ von 1,6 Quadratmetern. Die Essens-Rationen sind erbärmlich: „Wer es nicht mit angesehen hat, wie die alten Leute sich am Schlusse der Essensausgabe auf die leeren Fässer stürzten, mit den Löffeln sie auskratzten, selbst die Tische, auf denen ausgeteilt wird, nach Resten mit Messern untersuchten, der vermag sich kein Bild davon zu machen, wie schnell Menschenwürde verloren geht“, hat eine Augenzeugin berichtet. Wer hier nicht an Hunger und Krankheit umkommt, wird meist in regelrechte Vernichtungslager wie Icbica oder Treblinka gebracht, um dort in der Gaskammer zu sterben. Aus St. Tönis hat dieses KZ nur das Ehepaar Henriette und Siegmund Falk überlebt.