Freie Kultur in Wuppertal Die beste Zeit unseres Lebens
Torsten Krug über den Spagat zwischen Kunst und Engagement.
Der Kulturherbst beginnt, allerorten eröffnen Premieren neue Spielzeiten, starten Ausstellungen, drängeln sich Filme in Kinos, locken Konzerte; der Bücherherbst stapelt Geschichten zu „Scheiterhaufen“, wie sie ein Freund nennt, weil man an ihnen nur scheitern kann. Doch irgendwie bin ich (noch) nicht bereit. In meiner letzten Kolumne dachte ich darüber nach, dass uns für all das die Zeit fehlt. Jetzt hält es mich kaum zu Hause, es zieht mich – in den Wald.
Die Geschehnisse im und um den Hambacher Forst, einst einer der größten Mischwälder Europas und mehr als 12 000 Jahre alt, ziehen mich in den Bann. Auch heute, da ich diese Kolumne schreibe, ein gutes Dutzend künstlerischer Projekte gleichzeitig bearbeitet werden wollen, sitze ich vor dem Laptop und verfolge, was Freunde und Freundinnen per Handy live im Internet teilen. Denn sie sind hingefahren, wie Tausende andere auch, um sich dem Wahnsinn, der profitgesteuerten Dummheit und Rohheit entgegenzustellen: Klima gegen Kohle – Zukunft gegen Vergangenheit.
Dazu sehe ich ein Video, das sich dieser Tage im Netz verbreitet: Die Bewohnerin eines Baumhauses, das offenbar kurz zuvor geräumt wurde, berichtet unter Tränen von ihrem jahrelangen Leben im Wald, „raus aus der Gesellschaft“, raus aus „allem, was ihr eingetrichtert worden“ sei. Dabei tut sie etwas für eben diese Gesellschaft. Oder vielmehr: für eine neue. Ein martialisch ausgestatteter Polizist, von dem nur die Augen im Ausschnitt der Stoffmaske zu sehen sind, steht neben ihr, muss es. Er unterbindet ihre sich aufbäumende Brandrede nicht, scheint selbst betreten, dreht sich weg von der Kamera, scheint an Emotionen zu schlucken.
„Die denken wahrscheinlich, sie haben gewonnen“, setzt die junge Frau an. „Die können nicht gewinnen, weil sie diesen Wald genauso brauchen. Die haben nicht verstanden, dass wir nicht für uns kämpfen, sondern für uns alle. Sie werden nie verstehen, wie es ist, auf einem Baumhaus zu sitzen und zu fühlen, dass man auf einem lebenden Wesen wohnt. Sie werden nie verstehen, wie es ist, mit Menschen zusammenzuleben, denen es scheißegal ist, wie du heißt, wie alt du bist oder was für einen Schulabschluss du hast.“ So viel habe sie in ihrer Zeit im Wald, im hierarchielosen Miteinander, gelernt, sei jeden Morgen – auch an diesem Morgen – aufgewacht mit dem Gedanken, genau am richtigen Ort genau das Richtige zu tun.
Als Erich Kästner gleich nach Beendigung des Krieges gefragt wurde, ob er die Leitung einer Feuilletonredaktion übernehmen wolle, sagte er, selber überrascht, „ja“ – und erörterte auch gleich in einer seiner Kolumnen, warum: „Der täglichen Kram“, darunter auch das Verfassen politischer Texte und Lieder für‘s Kabarett, blockiere die Arbeit am künstlerischen Werk, doch „wer jetzt beiseite steht, statt zuzupacken, hat offensichtlich stärkere Nerven als ich. Wer jetzt an seine gesammelten Werke denkt statt ans tägliche Pensum, soll es mit seinem Gewissen ausmachen. Wer jetzt Luftschlösser baut, statt Schutt wegzuräumen, gehört vom Schicksal übers Knie gelegt.“
Wer heute nicht an eine bessere Zukunft glaubt, wendet sich einer vermeintlich besseren Vergangenheit zu. Doch die gibt es nicht. Unsere Konflikte in vielen Bereichen unserer Gesellschaft weisen darauf hin, dass alles möglich ist – auch das Gute. Es gibt nur kaum Gutes, außer: man tut es.
Am Ende sagt die Baumhausbewohnerin, erstaunlich gefasst: „Es war die beste Zeit meines Lebens.“