Premiere für „Linie 1“: Höhepunkte im Untergrund
Die „Linie 1“ überzeugt vor allem durch die Darsteller. Im Schauspielhaus gab es viel Applaus.
Wuppertal. Das ganze Leben ist kein Quiz, sondern ein Bahnhof. Und wer tief fällt, kommt ganz unten an. Die Erkenntnis ist so düster wie die Beleuchtung im Schauspielhaus, denn die Wuppertaler Bühnen führen ihr Publikum mit viel Nebel und wenig Licht zu den heimlichen Königen der unterirdischen Alltagswelt - zu Parasiten und Paradiesvögeln, Obdachlosen und Drogendealern.
Fremdenfeindlichkeit, Liebeskummer, Zukunftsängste: Jeder, der in der "Linie 1" schwarz fährt, mit einer Rosa-Brille durchs Leben geht oder ständig rot sieht, hat ein anderes Schicksal. Die einen haben freie Bahn, die nächsten werden aus der selben geworfen, wieder andere sind längst auf die schiefe Bahn gekommen und bleiben buchstäblich auf der Strecke. Symbolischer geht’s kaum. So gesehen passte die Premiere bestens zum Stück: Eine Tür der U-Bahn klemmte - wie überhaupt so vieles im Leben der illustren Passagiere nicht im Lot ist.
Die Technik ließ sie zwar an manchen Stellen im Stich, dafür wussten sich die Darsteller zu helfen. Sie spielen, als könne sie nichts aus dem Gleichgewicht bringen. Auch die Anweisung nicht, standesgemäß zu berlinern - was nicht jedem Darsteller in die Wiege gelegt wurde. Das macht aber nichts, denn ein Dialekt allein füllt keinen Charakterkopf aus. Und so kommt es in Wuppertal auf anderes an - nicht auf den typischen Zeitgeist der 80er Jahre, in der die Revue von Volker Ludwig und Birger Heymann nunmal spielt, sondern auf die kleinen, zeitübergreifenden Einzelschicksale, die das Ensemble mit großem Einfühlungsvermögen auf die Bühne bringt.
Zug um Zug entwirft Regisseur Olaf Strieb ein Kaleidoskop des Großstadt-Dschungels - mit engstirnigen Altvorderen (großartig: Ingeborg Wolff), die sich selbst zum Affen machen, und flatterhaften Barbiepüppchen, die wie Schmetterlinge immer wieder neuen Auftrieb finden.
Dass Strieb dabei auf überdrehte Kunstfiguren setzt, mag manchem zu abgefahren sein, unterhaltsam ist es allemal. Denn die "Linie 1" ist nicht nur eine musikalische Revue, sondern vor allem ein einziger Kleiderwechsel. Und ein Fest für die Schauspieler: Elf Darsteller meistern 70 Rollen - mit Bravour.
Dass die Produktion eine Kooperation mit der Folkwang Hochschule ist, macht die U-Bahn zum Sprungbrett für den Nachwuchs: Jennifer Breitrück trägt erfrischendes Grün und ist die passende Besetzung als naives Mädchen vom Lande, das im Untergrund die Tief- und Höhepunkte der Großstadt kennen lernt.
Unter den sechs Schauspielschülern ragt vor allem Magdalena Helmig heraus. Aber auch Bernhard Glose, Alexander Scala, Felix Lohrengel und Christina Schmitz scheinen den Auftritt in vollen Zügen zu genießen. Sie beeindrucken durch Wandlungsfähigkeit und ganzen Körpereinsatz. Denn das Fahren und Bremsen wird nicht durch Rollbänder, sondern durch flackernde Lichter und taumelnde Körper simuliert.
Überzeugend sind auch die Kostüme von Miriam Dadel: Während Obdachlose Grau tragen, glänzt Julia Wolff als schrille Königin der Nacht in einem teuflisch roten Kleid. Doch zum Glück wird den einzelnen Schichten nicht nur ein Farbstempel aufgedrückt. In einer Szene tragen Punks wie Karrierefrauen unterschiedliche Kleidung, aber das selbe Muster - ihr Alltag mag sie trennen, aber der Traum vom Glück verbindet sie alle.
Die schönste Illusion stöckelt auf Männerbeinen heran: Mit schwingenden Schirmen sind die "Witwen" Andreas Ramstein, Hans Richter, Henning Strübbe und Felix Lohrengel wunderbare Streitmaschinen in Frauengestalt.
Auch wenn die Hauptgeschichte zwischendurch auf ein Nebengleis gerät, die Choreografie zwangsläufig nicht an die Ansprüche reiner Musicalsänger reichen kann und die rockige Musik der vierköpfigen Liveband manche Stimme übertönt, rollt die "Linie 1" mit viel Schwung und Witz heran. Für die Schauspielschüler ist der Zug deshalb noch lange nicht abgefahren. Im Gegenteil: Ihre Karriere dürfte jetzt erst richtig Fahrt aufnehmen.