Theaterkritik Eine Gesellschaft im Optimierungswahn - Die Laborantin im TalTonTheater

Das Talton-Theater zeigt das dystopische Stück „Die Laborantin“ der britischen Autorin Ella Road.

Mit dem eigenen Rating stehen Bea (Daniela Stibane) und ihrem Freund Aaron (Nico Funken) alle Türen offen.

Foto: Joachim Schmitz

Im Talton-Theater (TTT) erzeugt „Die Laborantin“ eine Spannung, die den Zuschauer förmlich in den Sitz drückt und ihn mal zum Lachen, mal zum Grübeln bringt. Das erste Stück der britischen Autorin Ella Road läuft auf eine Frage hinaus: Möchten wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der unsere Gene alles bestimmen – von der Partnerwahl über den Job bis zur medizinischen Versorgung? Das dystopische Szenario brachte ein Ensemble unter Regisseur Benjamin Breutel am Wochenende auf die TTT-Bühne. An beiden Abenden war der Saal an der Wiesenstraße voll besetzt, und die Gäste bejubelten die spielfreudigen Darsteller.

Ein Blick in eine
nicht allzu ferne Zukunft

„Die Laborantin“ nahm das Publikum mit in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der ein einfacher Bluttest Auskunft über Erbkrankheiten, Gendefekte sowie die Wahrscheinlichkeit psychischer und körperlicher Erkrankungen gibt. Hauptfigur Bea (Daniela Stibane) arbeitet im Krankenhaus und gehört zum Team, das aus den Testergebnissen einen Gesamtwert auf einer Skala von eins bis zehn errechnet. Ein Fortschritt für die individuelle Gesundheitsvorsorge, könnte man meinen. Tatsächlich wirkt das Rating massiv auf alle anderen Lebensbereiche ein: ohne gutes Rating keine Karriere, kein Bankkredit und erst recht keine Aussicht auf einen attraktiven Partner.

Mit dem eigenen Rating stehen Bea (7,1) und ihrem Freund Aaron (8,9) alle Türen offen. Sein hoher Wert ermöglicht Aaron (Nico Funken) die Juristenlaufbahn, Bea arbeitet in einer Wachstumsbranche. Das junge Paar genießt sein Glück in vollen Zügen. Umso größer ist die Irritation, als Beas Kumpel Char (Akram Al Homsy) nur auf 2,2 getestet wird. Der bittet sie um Hilfe, und die Laborantin entdeckt einen lukrativen Nebenerwerb: Wenn eine simple Zahl über das ganze Leben entscheidet, ist ein gefälschter Test bares Geld wert.

Die von Ella Road geschaffenen Figuren zeichnen sich durch ihre lebensechten Widersprüche aus – eine Komplexität, die das Ensemble in gut zwei Stunden wirkungsvoll entfaltet. In der Titelrolle erscheint Daniela Stibane zunächst als naive Mitläuferin, die nur aus alter Freundschaft gegen die Richtlinien verstößt. In ihrem Gesicht entdeckt man aber auch Entschlossenheit. Sie überzeugt als soziale Aufsteigerin, die sich zur vielbeschäftigten „Dealerin“ für genetische Informationen mausert.

Hinzu kommt Stibanes emotionale Bandbreite. Sie stürzt sich kopfüber in die Liebe zu ihrem Traummann, ist anschmiegsam und blickt sanft-verklärt. Ihr Spiel ist nicht wiederzuerkennen, als sich Aarons Identität als Gespinst aus Halbwahrheiten und Lügen entpuppt. Erst reagiert sie verzweifelt, dann abwehrend. Die Züge verhärten sich, und ihre Kälte macht eines klar: Bea wird alles tun, um nicht wieder das Elend ihrer Kindheit zu erleben.

Während die Laborantin den Ratingwahn verinnerlicht hat, balanciert Aaron auf einem schmalen Grat zwischen Anpassung und Subversion. Nico Funken geht ganz in der Rolle des „Prince Charming“ auf, der seine Freundin geschickt um den Finger wickelt. Nach und nach offenbart er jedoch einen haltlosen Charakter, der Alkohol und Glücksspiel verfallen ist und extreme Stimmungsschwankungen durchlebt. Was ihn gerade so sympathisch macht in der auf Optimierung getrimmten Zukunftsgesellschaft.

Offen rebelliert Char gegen diese Zustände, und Akram Al Homsy gibt ihm eine intensive Körperlichkeit mit. Ein Rebell ist er nicht zuletzt, weil er von kleinen, empathischen Gesten bis leidenschaftlichen Ausbrüchen seine Gefühle ausagiert. Al Homsy verliert die Energie selbst dann nicht, als seine Figur immer deutlicher die Symptome der Huntington-Krankheit zeigt. Ungewollte Bewegungen stellen sich ein, der Redefluss stockt – und dennoch kommt sein Anliegen verständlich rüber.

In angemessener Zurückhaltung spielt Hartmut Kies den alten David, die „gute Seele“ in Beas Krankenhaus. Seine Erzählung vom Gärtner, der an seinem Perfektionismus zugrunde geht, gibt nicht nur den Mitspielern, sondern auch dem Zuschauer zu denken.

Sinnträchtig ist der Pfad
aus Steinen auf der Bühne

Die von Bastian Klingelhöller produzierten Video- und Audio-Einspielungen dehnen das Gesellschaftspanorama aus und binden Robin Schmale und weitere Ensemblemitglieder ein. Manipulation des Erbguts durch die „Genschere“, Zwangssterilisation, die Rückkehr des Euthanasie-Gedankens – in dieser „schönen neuen Welt“ scheint alles möglich zu sein. Sinnträchtig ist der Pfad aus Steinen, die Regisseur Breutel auf der Bühne verteilt hat. Sie stehen für die Wirklichkeit, an der sich die romantischen Illusionen von Bea und Aaron hart stoßen.

„Die Laborantin“ läuft wieder am 25. und 26. Januar im Talton-Theater (Wiesenstraße 118). Weitere Aufführungen folgen im März. Informationen und Tickets gibt es unter