Kriegsgräber in Russland: Die Trauer lässt nicht los

Nach 65 Jahren besuchen Angehörige die letzte Ruhestätte deutscher Soldaten in Russland.

Wuppertal/Hagen/Sebesh. Manche schlagen ein Kreuz in den Boden, andere streuen Erde aus der Heimat. Klemens Becker legt Blumen nieder. Nach 65 Jahren steht der Hagener zum ersten Mal am Grabe seines Bruders - 1800 Kilometer von der Heimat entfernt. Auf dem Sammelfriedhof im russischen Sebesh an der lettischen Grenze ruhen 14 000 gefallene Wehrmachtssoldaten. Platz gibt es für 50 000.

Bis heute sucht der Volksbund nach vermissten Soldaten und Grabstätten, die während Vormarsch und Rückzug der deutschen Armee in Russland angelegt wurden. "Viele sind heute nicht mehr zu finden, dem Erdboden gleichgemacht oder überbaut worden”, weiß Wolfgang Held vom Volksbund NRW. "Um die Gräber der Deutschen machten die Russen nach Kriegsende wenig Aufheben. Sie hatten ihr Land überfallen.” Das änderte sich mit Öffnung Osteuropas Anfang der 90er Jahre. Seitdem darf der Volksbund in Russland nach den Gebeinen der Gefallenen suchen und diese auf Sammelfriedhöfe umbetten.

Hundert Angehörige reisten nun mit dem Volksbund zur Einweihung der Anlage in Sebesh. Viele davon aus Nordrhein-Westfalen. Hans Beckers Grab war eines von denen, die es optisch nicht mehr gab. Der Volksbund kämmte den verwilderten Acker bei Senkina Gora um. Hier hatten ihn seine Kameraden einst begraben. "Durch die Erkennungsmarke (Foto) konnten die Knochen meinem Bruder zugeordnet werden”, so Klemens Becker. Lange Zeit glaubte er, die Trauer überwunden zu haben. Doch tief im Innern ließ es ihn das Gefühl nie los, von Hans nie Abschied genommen zu haben.

Stolz war er auf seinen Bruder, auf diesen strammen Burschen in schicker Uniform. "Andere Kinder haben meine Geschwister und mich um ihn beneidet”, schwärmt Klemens Becker. Zum Offizier wollte es der Hans immer bringen. Doch kurz vor der Beförderung zum Anwärter degradierte ihn das Kriegsgericht zum einfachen Soldaten. "Auf dem Russlandfeldzug legte er sich schlafen, anstatt Wache zu schieben.” Um den verlorenen Rang wiederzuerlangen, heuerte der 22-Jährige bei der Bewährungskompanie an, die an Brennpunkten zum Einsatz kam - ganz vorne an der Front. Im russischen Trinewo wurde er am 26. Mai 1943 erschossen. "Durch die Brust”, vermutet der 78-Jährige und zeigt das Einschussloch in der Brieftasche. Kameraden hatten sie der Familie zugeschickt.

Zurück in Sebesh: Vor einer Granitstele muss Klemens Becker mit den Tränen kämpfen. An mehreren Säulen reihen sich 14000 Namen aneinander. An einer entdeckt er den seines Bruders. "Viele Jahre war er für mich unerreichbar, plötzlich ist mir mein Bruder wieder ganz nah”, seufzt er.

Einige Stelen weiter lässt auch Ingrid Eckstein aus Wuppertal ihren Gefühlen freien Lauf. Als ihr Vater Helmut Schmidt am 28.Januar 1943 fiel, war sie vier Jahre alt. Erinnern kann sie sich an ihn nicht mehr, Ruhe lässt ihr sein Schicksal nicht. Immer wieder schaute sie sich die Gegenstände an, die ihr Vater bei sich trug, als er starb: Soldbuch, Ehering, Familienfotos.

Mit dem Nachlass des Vaters sandte das Wehrmachtsamt 1943 eine Abbildung seiner Grabstätte auf dem "Ehrenfriedhof” in Opotschka. Der beiliegende Nachruf klingt wie Hohn in ihren Ohren: "... er ließ im harten Kampf und treuer Pflichterfüllung sein Leben. Er ist heldenhaft gefallen ... und wird an dieser Stelle seine letzte Ruhe finden.” Vom Volksbund weiß sie, wie die Russen oftmals schon kurz nach Rückeroberung ihrer Gebiete mit den Gräbern des Feindes verfahren sind: "Holzkreuze wurden verfeuert, Körper geplündert.” Umso glücklicher ist Ingrid Eckstein darüber, dass ihr Vater nun auf dem Sammelfriedhof in Sebesh eine würdige Bestattung erhalten hat.

Zu sehen ist das Grab von Helmut Schmidt in Sebesh nicht. Er liegt gemeinsam mit seinen Kameraden auf einer grünen Wiese, in deren Mitte ein mahnendes Holzkreuz in den Himmel empor ragt. Seine Tochter legt Blumen und Fotos nieder. Bilder zeigen ihn als stolzen Vater mit seinen Kindern. Daneben blickt das Gesicht der Mutter in die Kamera. "Nur zu gerne hätte sie hier an seinem Grab gestanden”, weiß Ingrid Eckstein. 1985 begann die Mutter mit der Suche nach ihrem toten Mann. Neun Jahre später starb sie selbst. "Ich wollte zu Ende führen, was sie nicht mehr schaffte”, seufzt die Tochter. "Jetzt, wo ihr Foto an seinem Grab steht, fällt mir eine tonnenschwere Last von den Schultern.”

Zum Geburtstag ihres Vaters im nächsten Jahr will Ingrid Eckstein wiederkommen - mit einer kleinen Grabplatte im Gepäck. Schon oft dachte sie daran, die Gebeine in die Heimat überführen zu lassen. "Die Gedanken habe ich verworfen. Er soll dort ruhen, wo er starb, und bei seinen gefallenen Kameraden bleiben.”

Sebesh Der Friedhof an der lettischen Grenze im Bezirk Pskow (Pleskau) ist einer der vier letzten großen Sammelfriedhöfe, die der Volksbund für die Russische Föderation vorgesehen hat. Das etwa vier Hektar große Areal bietet Raum für 50 000 Gräber. Derzeit liegen für das umliegende Gebiet ungefähr 30 000 Grabmeldungen vor. Die Gräber stammen aus der Zeit des deutschen Vormarsches 1941 und des Rückzuges 1944. Nach den bisherigen Erfahrungen wird der Volksbund deutlich mehr Tote bergen können. 2004 begann der Ausbau, gegenwärtig sind hier 13000 Tote bestattet.

Verein Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. wurde am 16. Dezember 1919 gegründet und ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein mit humanitärem Auftrag. Er erhält und pflegt etwa zwei Millionen Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Der Volksbund hat 228000 Mitglieder und finanziert sich und seine Arbeit überwiegend ("etwa 90 Prozent") aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Sammlungen.