Ringen um die kalte Progression
Volker Kauder (CDU) fordert ein Ende der Debatte. SPD-Chef Sigmar Gabriel will eine schnelle Neuregelung.
Berlin. Die politische Diskussion um mögliche Steuerentlastungen wird immer verwirrender: Während Teile des CDU-Bundesvorstands bereits an einem entsprechenden Konzept feilen und auch die SPD Einlenken signalisierte, traten CSU-Chef Horst Seehofer und der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, am Montag auf die Bremse: Priorität habe ein schuldenfreier Bundeshaushalt, sagte Seehofer. Und Kauder verlangte, „die ganze Diskussion um die sogenannte kalte Progression ein(zu)stellen“. Eine am Montag ebenfalls bekanntgewordene Prognose über deutliche Steuermehreinnahmen dürfte die Debatte gleichwohl weiter anheizen.
Die „kalte Progression“ ist ein sperriger Begriff, ein technokratisches Konstrukt. Doch über seine praktischen Auswirkungen haben sich viele Beschäftigte garantiert schon öfter geärgert. Die Tatsache nämlich, dass von einer Lohn- und Gehaltserhöhung am Ende herzlich wenig übrig bleibt. Möglich wird das durch den geltenden Einkommensteuertarif. Der ist so aufgebaut, dass ein Lohnzuwachs automatisch zu einer höheren Steuerbelastung führt. Dies gilt allerdings selbst dann, wenn eine Lohnerhöhung so ausfällt, dass sie lediglich die Teuerungsrate ausgleicht. Folge: Trotz nominal mehr Geld sinkt das reale Einkommen und damit die individuelle Kaufkraft. Kritiker sprechen deshalb von einer „schleichenden Enteignung“ der Beschäftigten.
Die SPD hat dieses Problem lange Zeit ignoriert. Später erklärte man sich nur zu einer Lösung bereit, wenn im Gegenzug der Spitzensteuersatz angehoben würde. Doch da ist die Union vor. Zumindest an dieser Stelle ist nun etwas Bewegung in die politischen Fronten gekommen. SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigte sich am Montag aufgeschlossen für eine Neuregelung noch in dieser Wahlperiode — und zwar ohne Steueranhebungen oder Sozialkürzungen. Das müsse „aufgrund der hohen Steuereinnahmen“ möglich sein, sagte er nach einer Telefonkonferenz des Parteipräsidiums. Als Kompensation brachte Gabriel den Abbau von Steuervergünstigungen ins Spiel, was aber der CSU eine Dorn im Auge ist.
Gabriels Befund wurde am Montag auch durch eine Prognose des gewerkschaftsnahen Instituts für Markroökonomie- und Konjunkturforschung (IMK) gestützt: Demnach erwarten die Experten allein für das kommende Jahr rund 9,1 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen als vom Schätzerkreis beim Bundesfinanzministerium noch Ende 2013 angenommen. Im Jahr 2018 könnten es sogar 14,6 Milliarden zusätzlich sein. Trotzdem hält auch IMK-Chef Horn eine Gegenfinanzierung zum Abbau der „kalten Progression“ für unerlässlich. Angesichts des großen Investitionsdefizits seien Steuersenkungen ohne Ausgleich fehl am Platze, sagte er unserer Zeitung. Für Unionsfraktionschef Volker Kauder sind Steuersenkungen allenfalls Zukunftsmusik. Spielräume dafür könnten sich „2015, 2016“ auftun.
Dass der Staat den großen Samariter gibt, ist aber ohnehin nicht zu erwarten. Dafür steht einfach zuviel auf dem Spiel. Nach Angaben des Bundes der Steuerzahler spült der Effekt der „kalten Progression“ allein bis 2017 insgesamt 55,8 Milliarden Euro in die Kassen. Davon profitiert nicht nur der Bund. Auch den Ländern, die durch die Schuldenbremse ab 2020 keine Kredite mehr aufnehmen dürfen, kommt das Geld zugute.