Stammgast im „Irrenhaus“
Zwölf Jahre lebte Radovan Karadzic als Dr. Dabic unbehelligt in Belgrad und praktizierte.
Belgrad. "Unauffindbar untergetaucht", diagnostizierten Geheimdienste, Polizei und Regierungen. Doch der zwölf Jahre gesuchte frühere Führer der bosnischen Serben lebte unerkannt in aller Öffentlichkeit. Politiker, Experten und Hinterbliebene beschrieben ihn als "Schlächter" und "Massenmörder", der den Tod Zehntausender und die Verwundung Hunderttausender auf dem Gewissen hat. Doch die Patienten von Radovan Karadzic alias Dr. Dragan David Dabic beschreiben ihn als charismatisch, gütig und langmütig.
Der angeblich wie vom Erdboden verschluckte mutmaßliche Kriegsverbrecher lebte in ganz Serbien in aller Öffentlichkeit: mit Visitenkarte, E-Mail-Adresse, eigener Internetseite, gleich zwei Handynummern und eigener Arztpraxis in Belgrad.
Noch am 23. Mai hatte er als "Alternativmediziner" einen dreiviertelstündigen Vortrag auf dem "Festival gesundes Leben" gehalten. Und das fand in Belgrads beliebtestem Ausflugsziel "Ada Ciganjlija" am Save-Fluss statt.
Der Experte für "Bioenergie" hatte sich eine eigene Biografie zurecht gelegt: Ausgedehnte Studien alternativer Heilpflanzen und -methoden in China und Indien. Jahrzehntelanger Aufenthalt in den USA, wo er im wahren Leben einmal ein knappes Jahr studiert hatte. Seine dort zurückgelassene geschiedene Frau rücke aus "Rache" seine Universitätsdiplome als Mediziner nicht heraus, konnte er glaubhaft versichern.
Dass er trotz aller Öffentlichkeit unerkannt blieb, verdankte Karadzic seiner geänderten Identität. Abgemagert, in Naturfasern gekleidet, stets mit Hut und großer Brille. Ungewöhnlich seine manchmal zum Zopf und Knoten gebändigte Haarmähne und sein weißer Rauschebart. Seine Patienten sahen in ihm den "Typ indischer Guru".
Die Belgrader Medien berichteten oft über die Auftritte von Dr. Dabic, der das Motto ausgegeben hatte: "Hilfe gibt es immer." Der einst mächtigste Mann in Bosnien lebte bescheiden und zurückgezogen in einer Zwei-Zimmer-Mietwohnung in Neu-Belgrad. Die Monatskarte für die Belgrader Nahverkehrsbetriebe kaufte er selbst.
Er war Stammgast in der Kneipe "Irrenhaus" in seinem Wohnviertel. Hier saß er oft stundenlang und lauschte der dort populären Volksmusik. Gespräche vermied der einsilbige Mann, erinnern sich die Gäste. Einmal schnappte er sich sogar die Gusla, das einsaitige typische Streichinstrument der Balkanländer. Dann trug er ein Volkslied vor. Er nahm immer an der gleichen Stelle Platz. Stets die großen Fotos von Karadzic und dessen Militärchef Ratko Mladic an der Wand im Blick, die hier immer noch verehrt werden.
Der sanfte Greis mit der weißen Haarpracht war immer in Begleitung "schöner Frauen", berichten die Belgrader Zeitungen. Eine gepflegte Frau mittleren Alters wird mit einem Foto gezeigt. Sie sei für Karadzic "die Liebe seines Lebens".
Von dem Verantwortlichen für die größten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wird ein durch und durch warmes und idyllisches Bild gezeichnet: Er heilte durch Handauflegen und verdiente ein bescheidenes Zusatzeinkommen durch den Verkauf von Magneten gegen Schmerzen.