Urteil: Wenn mehr Stimmen Sitze kosten
Das Bundesverfassungsgericht kippt eine paradoxe Wahlrechtsklausel. 2009 wird der Bundestag trotzdem nach altem Recht gewählt.
Karlsruhe. Die Hamburger SPD-Wähler werden es kaum glauben können. Da sind sie bei der Bundestagswahl 2005 zur Urne geeilt, um ihre Partei - Agenda 2010 hin oder her - zu unterstützen. Und nun bekommen sie von höchstrichterlicher Stelle erklärt, dass sie es zu gut gemeint haben.
Im Urteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht gestern Teile des Wahlrechts für verfassungswidrig erklärte, heißt es: "Damit haben 19500Wähler der SPD in Hamburg dieser Partei durch ihre Stimme geschadet." Die paradoxe Klausel, die Ja-Stimmen von Wählern ins Gegenteil verkehren kann, haben die Richter folgerichtig gekippt.
Dass die Regelung jahrzehntelang unbeanstandet blieb, mag mit ihrer Kompliziertheit zu tun haben. Erst die Nachwahl, die bei der Bundestagswahl 2005 wegen des Todes einer NPD-Direktkandidatin in Dresden notwendig wurde, brachte das Problem wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und damit auf den Karlsruher Richtertisch:
Weil das übrige Wahlergebnis bekannt war, konnte die Union ihren Anhängern vorrechnen, dass sie zwar ihre Erst-, aber bitte nicht zu zahlreich ihre Zweitstimme für sie abgeben sollten. Denn hätte die Union mehr als gut 41000 Stimmen gelandet, hätte sie bundesweit einen Sitz eingebüßt.
Auslöser der wundersamen Verwandlung von Plus in Minus sind die Überhangmandate. Sie entstehen, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Verhältnis der Zweitstimmen zustehen. Die Partei darf diese Mandate behalten. Vor der Nachwahl 2005 verfügte die Union in Sachsen bereits über einige Überhangmandate und hatte so ihre Sitze sicher.
Weil aber nach dem Zweitstimmenanteil berechnet wird, welche Landesliste bei den Bundestags-Sitzen zum Zuge kommt, konnte die Sachsen-CDU nun der Union in anderen Ländern etwas Gutes tun: Sie musste nur ein schlechtes Ergebnis erzielen, damit eine andere Landesliste den Vorrang erhielt - und hatte so bundesweit einen Sitz mehr.
Diese Klausel führt im Normalfall zu einem regelrechten "Lotterie- Effekt". Gerade in den Stadtstaaten und in Ostdeutschland, wo regelmäßig Überhangmandate entstehen, weiß der Wähler nicht recht, ob er seiner Partei mit seinem Kreuzchen wirklich etwas Gutes tut. Das hat der Zweite Karlsruher Senat zwar eindeutig als Verletzung der Gleichheit der Wahl beanstandet.
Dennoch bleibt nicht nur die Wahl 2005 gültig, sondern auch der kommende Urnengang wird nach den verfassungswidrigen Regeln abgehalten: Karlsruhe lässt dem Gesetzgeber bis zum Juni 2011 Zeit für ein neues Gesetz.
Darüber hinaus bekommt das Parlament nur ein paar Stichworte an die Hand. Eine Neuregelung, so die Richter, könne etwa beim Entstehen von Überhangmandaten oder der Verrechnung von Direkt- mit Zweitstimmenmandaten ansetzen.
Der bisherige Effekt der Überhangmandate fiele dann weg, wenn bundesweit weniger Listenplätze vergeben würden und der Proporz, der sich aus den Zweitstimmen errechnet, erhalten bliebe. FDP, Grüne und Linke, die meist keine Überhangmandate erreichen, sprachen sich gleich nach dem Urteil für eine solche Regelung aus.