Rund 30 Storchenpaare nisten regelmäßig im brandenburgischen Rühstädt, dem storchenreichsten Dorf in Deutschland. Zu Besuch im Dorf der Störche
Jedes Jahr im März werden die Rühstädter unruhig. Immer wieder blicken sie gespannt in den Himmel: Kehren die Störche wohlbehalten aus Afrika zurück? Finden alle Paare wieder zusammen? Welches Nest wird als erstes besetzt?
„Das ist so eine Art Wettbewerb zwischen uns Dorfbewohnern – jeder will der erste sein“, sagt Vera Wildgruber. Die Rentnerin bietet auf ihrem Scheunendach zwei Storchenpaaren eine Heimat auf Zeit.
„Störche gucken ist spannender als jedes Fernsehprogramm“, sagt Wildgruber, die vom verwunschenen Innenhof ihres Fachwerkhauses die beiden Nester im Blick hat. „Eines der Paare hat ständig ‚gestörchelt‘ und jetzt wird eifrig gebrütet. Zum Glück gab es bis jetzt keinen Ärger wie im letzten Jahr – da wollte das Männchen das Nachbarnest als Datsche nutzen, sobald der Nachwuchs da war. Und manchmal versuchen fremde Jungtiere, Nistmaterial zu klauen.“
Doch auf dem Programm des Storchenkinos steht manchmal auch Drama: „Letztes Jahr wurde eines von drei Jungen aus dem Nest geworfen“, berichtet Wildgruber. „Ich bin sicher, dass es mit der fehlenden Nahrung zu tun hat.“ Die Dürresommer der vergangenen Jahre forderten ihren Tribut. Zurzeit logieren 27 Horstpaare in Rühstädt – vor 20 Jahren waren es noch 39.
„Die ersten drei Wochen nach dem Schlüpfen sind die kritische Phase für die Jungen, sie brauchen viel kleinteilige Nahrung wie Würmer oder Insekten“, erklärt Daniela Drechsler von der Naturwacht Brandenburg. Doch Regenwürmer sind bei trockenen Böden für die Störche nicht erreichbar. Und viele kleine Gewässer fallen bei Dürre trocken, sodass es keine Kaulquappen mehr gibt.
Während der Storchensaison zwischen April und August führen die Ranger der Naturwacht regelmäßig durch das Dorf, in dem dann überall Störche wohnen: auf dem alten Telegrafenturm und dem Kindergarten, auf Scheunen und Wohnhäusern. Tagsüber gehen die Vogeleltern auf Futtersuche, dann findet man sie in den nahegelegenen Feuchtgebieten und Elbauen, sie folgen Traktoren beim Mähen oder warten auf den Beifang eines Fischers.
Fachwerkhäuser
und Obstgärten
Der Rundgang mit Daniela Drechsler führt durch ein typisches Bilderbuchdorf der Elbregion, mit seiner Backsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert, den Fachwerkhäusern und üppigen Bauerngärten, in denen Kirschen und Äpfel reifen. Inmitten eines Parks mit einer Buchenallee liegt ein altes Schloss, das schon als Schule, Konsum und Postamt diente. Und aus der Ferne ist hin und wieder das Klappern eines Storchs zu hören.
Vor den meisten Häusern informieren Holzschilder über die gefiederten Bewohner. Die Storchentradition des Ortes reicht bis in die 1950er-Jahre zurück, als die ersten Weißstörche einzogen. Dank der nahegelegenen Elbauen fanden sie reichlich Futter. Und immer mehr Rühstädter halfen, indem sie Wagenräder oder andere Nisthilfen auf ihren Scheunen installierten. Bald galt Rühstädt als storchenreichster Ort der DDR. Seit 1996 trägt Rühstädt den Titel „Europäisches Storchendorf“ der Stiftung Europäisches Naturerbe.
Landwirte und Bewohner
richten sich nach den Störchen
Wenn es um ihre Störche geht, ziehen die 230 Einwohner bis heute an einem Strang: Die Gemeinde verlegte die Stromleitungen unterirdisch, einige Landwirte richten sich beim Mähen nach den Bedürfnissen der Jungtiere, Gärtner lassen Schnittgut zum Nestbau liegen. Der Nabu ist für das Beringen der Jungtiere zuständig und der Storchenclub rückt im Frühjahr mit der Hebebühne an, um Nester und Dächer auszubessern.
Zurzeit beginnt mit Mitteln der Stiftung Euronatur die Arbeit an einem neuen Projekt zur Verbesserung des Wasserhaushalts in den Weißstorchrevieren. Im Rühstädter Projekt werden Gräben befestigt, um die Wassersituation im Hinterland des Elbdeiches zu verbessern. Doch nicht nur der Storchennachwuchs macht den Rühstädtern Sorgen, sondern auch der Mitgliedermangel im Storchenclub.
„Einige der Vereinsgründer von 1990 leben nicht mehr“, erklärt Margitta Höcker. „Und die Jüngeren im Ort sind häufig Pendler, die zusätzlich noch einen Hof zu versorgen haben.“ Die Familie der Rühstädterin hat sich schon immer für die Störche engagiert. Ihr gehört der historische Wasserturm von 1883, das Wahrzeichen des Ortes – natürlich thront auch auf seiner Spitze ein Storchennest.
„Wir sind mit den Störchen aufgewachsen, sie gehörten zum Alltag“, berichtet Höcker. „Als Kinder liebten wir sie – aber keiner im Ort machte so ein Wesen darum wie heute.“ „Klapperstorch, Du Luder, bring mir einen Bruder“, sangen die Kinder damals. „Die Nähe der Menschen störte sie nie“, sagt Höcker. „Selbst wenn die Russen hier mit ihren Panzern durchrollten. Einmal haben wir sogar das Dach neu gedeckt, während der Storch seelenruhig brütete.“
Am Abend beginnt
das große Klappern
Gegen Abend werden die Jungstörche auf den Dächern langsam ungeduldig. Den ganzen Tag über haben sie sich geputzt, nach Flöhen gepickt, das Nest nach Futterresten vom Vorabend durchwühlt und den Menschen zugeguckt, die unter ihren Nestern standen. Nun wird es Zeit fürs Abendessen.
In der Dämmerung zeichnen sich die ersten Rückkehrer am Himmel ab. Bald hallt der ganze Ort wider vom Schnabelklappern, Fiepen und wilden Flügelschlagen, wenn sich die Jungen über das mitgebrachte Futter hermachen. Bis August müssen sie stark genug sein, um die Reise nach Afrika anzutreten, die Eltern folgen zwei Wochen später. Die Rühstädter werden dann etwas wehmütig – erst nach sieben Monaten können sie wieder mit Vorfreude den Himmel absuchen. Und wer weiß, wessen Nest dann als erstes besetzt wird.