Verteidiger Piero Hincapie: Leistungsträger im Schatten der Leverkusener Stars

Leverkusen · Über Leverkusens stillen Verteidiger wird nur selten berichtet. Dabei liefert er konstant starke Leistungen ab. Für die hat der Ecuadorianer eine behütete Kindheit geopfert.

Leverkusens Piero Hincapie (r.), hier gegen Heidenheims Marvin Pieringer.

Foto: picture alliance/dpa/Marius Becker

Ist von Bayer 04 Leverkusen die Rede, dann tauchen in der Berichterstattung stets die gleichen Namen auf. Natürlich der von Regisseur Florian Wirtz, selbstverständlich ebenso der von Taktgeber Granit Xhaka sowie zudem besonders jüngst verstärkt auch der von Torjäger Patrik Schick. Umso interessanter, dass der deutsche Meister kurz vor Weihnachten einen Vertrag verlängerte, der noch bis 2027 lief und somit eigentlich keinen akuten Handlungsbedarf erforderlich machte. Piero Hincapie dehnte sein Arbeitspapier aus, der Abwehrspieler band sich bis 2029.

Hincapie sagt zum Vertrag: „Diese Unterschrift ist mehr als das Abzeichnen eines Vertrages. Bayer 04 Leverkusen ist für mich nach dreieinhalb Jahren wie eine Familie geworden. Verein sowie Fans sind etwas Besonderes und als Team haben wir vergangene Saison gezeigt, was möglich ist, wenn man bedingungslos zusammenhält. Ich bin glücklich, dass man mit meinen Leistungen zufrieden ist und mir die Chance gibt, die Zukunft dieses Vereins weiter mitzugestalten. Geschäftsführer Simon Rolfes sagte: „Piero kam mit 19 Jahren als Talent zu uns, aber schon damals war zu erkennen, welches Zutrauen er in seine Fähigkeiten hat. Heute duelliert er sich auf Augenhöhe mit Weltklasse-Profis, er hat sich Respekt erarbeitet. Umso schöner ist es, dass sich Piero erneut langfristig für uns entschieden hat.“

Gegen Hincapie spielt
kein Stürmer gerne

Im August 2021 war Hincapie für umgerechnet rund acht Millionen Euro Ablöse vom argentinischen Erstligisten CA Talleres nach Leverkusen gekommen. Dort begann er zunächst als Linksverteidiger, agiert im von Trainer Xabi Alonso präferierten 3-4-2-1-System inzwischen jedoch zumeist als linker Innenverteidiger der Dreier-Abwehr. Fast unbemerkt hat sich der Ecuadorianer zum absoluten Stammspieler entwickelt. Inzwischen stehen bereits 142 Pflichtspiele für die „Werkself“ zu Buche, in der gerade vom Fachmagazin „kicker“ veröffentlichten Bundesliga-Rangliste gelang ihm von Rang zehn im vergangenen Sommer nun hinter Mitspieler Jonathan Tah der Sprung auf Platz zwei und damit in die internationale Klasse.

Dabei besitzt Hincapie mit 1,84m Länge sowie 77 kg Gewicht nicht über die einem Gegenspieler Furcht einflößenden Verteidiger-Maße. Dennoch gehört er zu den Typen, gegen die Angreifer äußerst ungerne antreten. Der am Donnerstag 23 Jahre alt werdende Südamerikaner ist ruhig, strahlt Sicherheit aus und verfügt über eine robuste Zweikampfstärke. Überdies leitet er nach Ball-Eroberungen mit präzisen Pässen das Angriffsspiel ein. „Manchmal muss ich mich kneifen. Vor vier Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich heute hier sein würde“, sagte Hincapie gegenüber dem Fußball-Magarin „kicker“.

Dafür ist Piero Martin Hincapie Reyna - wie er mit vollständigem Namen heißt - schwere Wege gegangen. Zwar wuchs er im 154 000 Einwohner zählenden Esmeraldas an der ecuadorianischen Pazifikküste für in dieser Region der Welt nicht selbstverständlich wohlbehüteten Verhältnissen auf. Dennoch musste er sich bereits in der Kindheit überwinden. Denn wenn am Wochenende schon um acht Uhr morgens organisierte Fußball-Turniere begannen, dann hätte sich der Morgenmuffel nach einer Schulwoche lieber nochmal im Bett umgedreht.

„Manchmal durftest Du noch nicht mal trainieren“

Die Leidenschaft für den Fußball aber behielt die Oberhand. Und für den opferte er sehr früh noch viel mehr. Bereits mit zehn Jahren verließ Hincapie sein Elternhaus, um sich im 461 Kilometer entfernten Guayaquil bei Independiente del Valle das Fußball-ABC beibringen zu lassen. „Das war der schwerste Abschied meines Lebens. Mütter haben immer die Angst, dass ihrem Kind etwas Schlimmes zustößt oder dass es sich einsam fühlt. Aber mein Vater hat mir erlaubt, von zu Hause auszuziehen, um meine Träume zu verwirklichen“, erzählt Hincapie.

Schon in recht jungen Jahren lernte er Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein, denn Independiente legt großen Wert auf eine duale Ausbildung. Erst kommt die Schule, dann der Fußball. „Wenn Du nicht gelernt hast, hast Du nicht gespielt, manchmal durftest Du dann noch nicht mal trainieren. Es war hart, aber prägend. Wenn Du nicht lernst, wirst Du keine Arbeit finden, denn dann hast Du dich nicht angestrengt. So ist das Leben“, sagt Hincapie. Also entfernte er sich mit 18 noch weiter von seinem Elternhaus. Bei CA Talleres in Cordoba betrug die Distanz schon gut 4500 Kilometer, nur ein Jahr später ging es über den Atlantik nach Deutschland.

Andere Kultur, fremde Sprache, anderes Wetter. Doch Piero Hincapie war gereift, seine Akklimatisierung ging folglich erstaunlich schnell. Nahezu logisch, dass er bei der WM 2022 in Katar alle drei Gruppenspiele Ecuadors über 90 Minuten bestritt und sich auch von einem Mittelfußbruch im Sommer 2023 nicht zurückwerfen ließ. „Du musst für deine Kollegen eine Leitfigur sein“, sagt der bislang 43-malige Nationalspieler. Auf dem Rasen zeigt er es mit Schnelligkeit, geschickt eingesetzter Aggressivität beim Zweikampf und den Gegner demotivierender Ruhe bei Pressing-Versuchen. Geht seine Entwicklung derart weiter, wird Hincapie wohl nicht bis 2029 in Leverkusen bleiben, Bayer 04 jedoch von einem europäischen Top-Club weit mehr an Ablöse einstreichen als die 2021 investierten acht Millionen Euro.