Ehrenausstellung für Lehmbrucks „Kniende“
Duisburg (dpa) - Paris um 1911: Coco Chanel eröffnet ihr erstes Geschäft, die Metro befördert Menschenmassen unter der Erde, Avantgarde-Künstler zerlegen ihre Bilder in Drei- und Vierecke, die „Ballets Russes“ lösen mit ihrem modernen Tanz Skandale aus.
Die französische Hauptstadt ist das pulsierende Zentrum der Moderne, als der aus Duisburg stammende Bildhauer Wilhelm Lehmbruck sich entschließt, 1910 mit seiner Familie nach Paris zu ziehen. Dem Aufenthalt Lehmbrucks in Paris verdankt die Kunstwelt ein „Jahrhundertwerk“: 1911 schuf Lehmbruck (1881-1919) die wegweisende Plastik „Kniende“, die mit ihren gestreckten Gliedmaßen und dem anmutig geneigten Kopf als Beginn des Expressionismus in der Skulptur gilt.
Zum 100. Geburtstag der „Knienden“ lässt das Duisburger Lehmbruck Museum in der aufwändigsten Ausstellung, die es je zusammengetragen hat, den Besucher in das Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts eintauchen. Mit 250 Leihgaben aus den größten Museen der Welt stellt das Haus faszinierend dar, wie sich Malerei, Bildhauerei, Tanz und Musik in den Jahren des Aufbruchs in die Moderne gegenseitig beeinflusst haben.
Im Zentrum steht natürlich Lehmbrucks 1,76 Meter hoher Frauenakt mit dem angewinkelten rechten Arm und der seltsam knienden Pose. Bis heute rätseln Kunsthistoriker, ob die „Kniende“ ständig sitzt oder wie eine Primadonna einen Knicks macht, um dann wieder aufzustehen - dann wäre sie übrigens überlebensgroß. Dass ihr rechter Arm freischweben kann, machte die neue Stahlskeletttechnik möglich, mit der etwa in Theatern auch floral schlängelnde Wände realisiert werden konnten, sagt Museumsdirektor Raimund Stecker.
Der hoch in den Himmel ragende Eiffelturm mag Lehmbruck inspiriert haben, die Gliedmaßen seiner „Knienden“ zu strecken. Streckungen finden sich bereits in Ansätzen auch bei Bernhard Hoetgers Darmstädter Torso, der ebenso gezeigt wird wie Werke von Rodin, Maillol und Matisse. Die „Kniende“ wird auch in Vergleich gesetzt zu Modiglianis länglichen Frauenbildern.
Die „Kniende“ sei eigentlich aus vielen Dreiecksformen zusammengesetzt, sagt Kuratorin Marion Bornscheuer. Damit ist sie in bester Gesellschaft zu den Kubisten wie Robert Delaunay, der den Eiffelturm in geometrische Formen zerlegte.
Das Motiv der knienden Frau taucht bereits in einem Bild aus dem Jahr 1907 von Maurice Denis auf, das Kuratorin Bornscheuer in einem Hotel in Japan fand und nach 100 Jahren wieder nach Europa holte. Auch in Matisses „Stillleben mit Auberginen“ (1911), eingeflogen aus dem New Yorker MoMa, findet sich eine kniende Frauen-Skulptur.
Lehmbruck lebte wie viele andere Künstler im eher provinziellen Montparnasse und dachte über einen Umzug in das billigere Berlin nach. Zwar statteten sich französische und ausländische Künstler gegenseitig Atelierbesuche ab, doch enge Freundschaften entwickelten sich nicht. Der ohnehin schweigsame Lehmbruck sprach schlecht französisch. Seine „Kniende“ aber machte 1911 im Pariser Herbstsalon Furore und wurde 1913 in der berühmten amerikanischen Armory Show gezeigt.
Lehmbruck war befreundet mit dem ukrainisch-amerikanischen Bildhauer Alexander Archipenko. Constantin Brancusi und Hoetger hatten ihre Ateliers um die Ecke. Allen gemeinsam war, dass sie den Einfluss des Impressionisten Rodin überwanden. Ähnlichkeiten der Werke sind in Rückenansichten oder Armgesten zu erkennen, wobei der revolutionäre Tanz der „Ballets Russes“ ebenfalls inspirierend gewirkt haben dürfte.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 mussten die deutschen Künstler Paris verlassen. Symbolisch schließt die Schau mit dem Fragment des im Bombenhagel 1945 zerstörten Steingusses der „Knienden“ aus der Berliner Nationalgalerie.